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Brexit: Das britische Dilemma

Prof. Dr. Klaus Stolz, Inhaber der Professur Britische und Amerikanische Kultur- und Länderstudien der TU Chemnitz, bewertet die Folgen des Brexit-Referendums für Großbritannien

„Brexit means Brexit“, so lautet das vielbeschworene Mantra der britischen Premierministerin Theresa May. Ursprünglich ausgesprochen als klare Willensbekundung nicht hinter das Ergebnis des Brexit-Referendums vom Juni dieses Jahres zurückzufallen, ist diese Formel mittlerweile zum Ausdruck der Hilflosigkeit der britischen Regierung angesichts der sich auftürmenden Probleme im Kontext der Brexit-Entscheidung geworden. Was denn nun Brexit wirklich bedeutet, scheint immer weniger klar zu sein.

Dies gilt zum einen für die vermeintliche Kernfrage, die zukünftige Beziehung Großbritanniens zur Europa. Hier hat die Premierministerin angekündigt, die Europäische Union bis Ende März 2017 offiziell darüber zu informieren, dass Großbritannien aus der EU austreten wolle. Mit welcher inhaltlichen Position sie in die Austrittsverhandlungen gehen will, hat May nicht gesagt. Und dies will sie auch bis Februar nicht tun. Bis dahin ergehen sich ihre Kabinettskollegen in nichtssagenden Platitüden (Brexit-Minister Davis: man werde die beste Lösung für Großbritannien anstreben) und offensichtlichen Widersprüchen (Außenminister Johnson: nationale Grenzkontrolle und freier Marktzugang seien gleichzeitig zu haben). Vieles deutet mittlerweile auf einen harten Ausstieg hin. Die Regierung scheint bereit, den Zugang zum Einheitlichen Europäischen Markt der Kontrolle über die eigenen Landesgrenzen zu opfern. Dies wäre ein Sieg der Brexit-Hardliner und ein kaum abschätzbares Risiko für die britische Wirtschaft.

Die vom Brexit-Referendum ausgelöste Unsicherheit geht aber weit über diese wirtschafts- und europapolitischen Fragen hinaus. Sie betrifft vielmehr den Kern der britischen Verfassungs- und Staatsordnung. Anders als die deutsche oder die amerikanische Verfassung basiert die britische Verfassung nicht auf einem einzigen Rechtsdokument. Sie besteht vielmehr aus einem Sammelsurium aus historischen Urkunden, Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und nicht justiziablen Konventionen und Interpretationen. Im Zentrum steht die Idee der absoluten Souveränität des britischen Parlaments, das formal durch nichts gebunden werden kann (es gibt kein höherrangiges Recht). Ergänzt wird dieses Konzept durch die sogenannte Mandatstheorie, wonach die politische Souveränität letztlich von den Wählern ausgeht, die über die Parlamentswahlen – und seit 1975 in Ausnahmefällen auch über Referenden – der Regierung ein Mandat für eine bestimmte Politik erteilen.

Aktuell ist nun vor dem Obersten Gerichtshof ein Verfahren anhängig, in dem letztinstanzlich geklärt werden soll, ob die britische Regierung befugt ist, ohne die Zustimmung des Westminster Parlaments (sowie der Parlamente in Schottland und Nordirland) den Austritt aus der EU zu vollziehen. Bisher hatten die Richter argumentiert, dass eine solch gravierende Veränderung der Rechtslage in Großbritannien, die letztlich die Aufhebung des European Community Acts von 1972 und aller darauffolgenden europäischen Rechtsakte bedeuten würde, der parlamentarischen Billigung bedürfe. Die Regierung May beharrt dagegen auf dem eindeutigen Referendumsmandat und ging in die Berufung. Unmittelbar nach Bekanntgabe des erstinstanzlichen Urteils ist ein öffentlicher  „shit-storm“ über die britische Justiz hereingebrochen. Eine Boulevardzeitung hatte auf seiner Titelseite die Richter gar als „Feinde des Volkes“ bezeichnet.

Dabei geht es in dieser Auseinandersetzung keineswegs um eine Umkehrung des Referendumsresultats. Die meisten Brexit-Gegner wissen genau, dass es einem Kollektivselbstmord der politischen Klasse gleichkäme, wollten die Abgeordneten bei ihrer Abstimmung das Referendum ignorieren. Stattdessen geht es um eine formalrechtliche Frage und um das Prinzip parlamentarischer Souveränität, deren Wiederherstellung für viele Konservative ja das eigentliche Ziel der Brexit-Abstimmung war.

Das Gerichtsverfahren ist jedoch erst der Anfang der verfassungspolitischen Diskussion. Denn die aktuelle britische Regierung befindet sich in einem Dilemma: sie hat zwar ein eindeutiges Mandat zum EU-Austritt, aber kein inhaltliches Mandat, das über die reine Austrittsentscheidung hinausgeht. Die letzte Unterhauswahl wurde noch von einem gewissen David Cameron gewonnen. Das Wahlprogramm der Konservativen enthielt damals keinerlei Festlegungen über die Zeit nach der EU.

Der gegenwärtige Versuch Theresa Mays das Vereinigte Königreich ohne ein klares Mandat für den Fluchtpunkt der Austrittsverhandlungen aus der EU zu führen, kommt daher einem Ritt auf der Rasierklinge gleich. Im Parlament gibt es eine nominale Mehrheit gegen den Brexit. Innerhalb der Konservativen Regierungsfraktion gibt es eine tiefe Spaltung in Bezug auf die Konditionen des Brexit und die anzustrebende Neuordnung der britisch-europäischen Beziehungen. In dieser Situation parlamentarische Mehrheiten für einen Brexit-Kurs zu schmieden, ist enorm schwierig. Ohne eine solche Rückendeckung zu verhandeln, ist jedoch verfassungsrechtlich höchst umstritten. Und selbst wenn sie eine Mehrheit hinter sich scharen könnte, bliebe noch immer der Makel, dass dieses Parlament keinen Auftrag des Wählers für eine wie auch immer geartete Austrittsposition erhalten hat. Ein solcher Brexit – insbesondere wenn er sich als ökonomisch lasteinreich erweisen sollte – wäre eine dauerhafte Belastung für den britischen Verfassungsfrieden.

Die Alternative hierzu wäre der Versuch sich ein neues Mandat einzuholen – entweder durch vorgezogene Neuwahlen oder durch ein zweites Referendum. Auch diese Optionen bergen jedoch enormen verfassungspolitischen Sprengstoff. So würde die Notwendigkeit zur Festlegung der eigenen Position im Wahlkampf sowohl die Konservativen als auch die ohnehin gebeutelte oppositionelle Labour Partei vor eine ernsthafte Zerreißprobe stellen. Der größte Gewinner einer solchen vorgezogenen Unterhauswahl wäre vermutlich UKIP, was dramatische Folgen für das politische Klima auf der Insel hätte. Und schließlich könnte eine generelle Stärkung der kleinen Parteien (auch die pro-europäischen Liberaldemokraten dürften zulegen), die ursprüngliche Hoffnung einen klaren Wählerauftrag für eine Mehrheitspartei im Parlament zu erhalten vollständig zunichtemachen.

Ähnlich problematisch ist auch der vielfach favorisierte Vorschlag, das Ergebnis der Verhandlungen mit der EU nachträglich durch ein zweites Referendum legitimieren zu lassen. Über welche Frage würde konkret abgestimmt werden? Was passiert, wenn das Verhandlungsergebnis abgelehnt wird? Zurück an den Verhandlungstisch oder gar raus aus dem ganzen Brexit-Prozess?

Überlagert wird diese grundsätzliche Problematik von den spezifischen Spannungen zwischen den einzelnen Landesteilen des Vereinigten Königreichs. Sollte der Oberste Gerichtshof im Januar wie erwartet entscheiden, dass die britische Regierung nicht auf die Zustimmung der Parlamente in Schottland und Nordirland angewiesen ist (in beiden Landesteilen gab es eine Referendumsmehrheit gegen den Brexit), so wäre zumindest diese eine Brexit-Stolperfalle umgangen. Dies jedoch zu dem Preis, dass damit die eindeutige Überordnung Westminsters über die regionalen Parlamente erneut offenbar wird. In beiden Landesteilen würde der Brexit damit zu einem beständigen Symbol für die Majorisierung durch England. Auch wenn die nationalistische schottische Regionalregierung gegenwärtig noch vor einem erneuten Unabhängigkeitsreferendum zurückschreckt, bleibt dies für den gesamten Zeitraum der Brexit-Verhandlungen und darüber hinaus eine durchaus ernsthafte Option.

Brexit means Brexit? Nein, so einfach ist die Sache sicher nicht. Das Brexit-Referendum und sein überraschender Ausgang bedeuten für das Vereinigte Königreich viel mehr als nur den Ausstieg aus der EU. Tatsächlich ist der Brexit die größte Herausforderung für die britische Verfassungsordnung und die Einheit des Vereinigten Königreichs seit dessen Bestehen.

Zur Person: Prof. Dr. Klaus Stolz

Prof. Dr. Klaus Stolz ist Politikwissenschaftler und Inhaber der Professur für Britische und Amerikanische Kultur- und Länderstudien an der TU Chemnitz. Klaus Stolz wurde 1964 in Freiburg geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Freiburg, promovierte dort und habilitierte an der Universität Göttingen. Seit 2008 lehrt er in Chemnitz.

Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Klaus Stolz, Telefon 0371 531-37297, E-Mail klaus.stolz@phil.tu-chemnitz.de

Hinweis: Unter der Rubrik "Kommentar & Hintergrund" veröffentlichte die "Freie Presse" in der Ausgabe vom 31. Dezember 2016 diesen Beitrag von Prof. Stolz. Unter dieser Rubrik sollen auch weiterhin verstärkt kontroverse Meinungen aus Wissenschaft und Gesellschaft öffentlich gemacht werden und die Diskussion anregen. Angehörige der TU Chemnitz, die sich hier auch gern einmal fundiert äußern möchten, sind dazu eingeladen. Kontakt: chefredaktion@freiepresse.de und/oder mario.steinebach@verwaltung.tu-chemnitz.de.

Mario Steinebach
31.12.2016

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