Erkenntnisse mit Gegenwartsbezug
Tagung „Für Freiheit – Recht – Zivilcourage. 75 Jahre 20. Juli 1944“ zeigte, dass das moralische Fundament unseres historisch gewachsenen Rechtsstaates erinnerungspolitisch gegenwärtig bleiben muss
Freiheit, Recht, Zivilcourage – diese drei Motive bildeten vor 75 Jahren das moralische Fundament des Widerstandes gegen das NS-Unrechtsregime. Auch heute noch sind die drei programmatischen Begriffe höchst aktuell, insofern vermittelte die historische Fachtagung „Für Freiheit – Recht – Zivilcourage. 75 Jahre 20. Juli 1944“, organisiert von der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der TU Chemnitz unter Leitung von Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll Erkenntnisse mit Gegenwartsbezug. Die Veranstaltung der TU Chemnitz, in Kooperation mit der Stiftung „Erinnerung Begegnung Integration – Stiftung der Vertriebenen im Freistaat Sachsen“, der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 und dem Militärhistorischen Museum der Bundeswehr wurde vom Sächsischen Staatsministerium des Innern gefördert und fand vom 4. bis zum 6. Juli im Militärhistorischen Museum in Dresden statt. Als Schirmherr firmierte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer.
Insgesamt elf Vorträge boten ein reiches Themenrepertoire, das sich einerseits explizit der Widerstandsgruppierung um Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907-1944) widmete – ihren inneren Motiven, ihren Einzelschicksalen und ihrer Netzwerkstruktur – und andererseits übergeordnete Themen aufgriff, beispielsweise durch Vorträge über die ideellen Vorstellungen deutscher Widerstandsgruppierungen und über den Widerstand im europäischen Ausland.
Auch die TU Chemnitz wartete in mehrfacher Hinsicht auf: Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll war nicht nur Organisator und Initiator der Tagung, sondern referierte über „Europavorstellungen im deutschen Widerstand“. Als ausgewiesener Spezialist für die Ideengeschichte des Dritten Reiches – dies belegen zahlreiche Publikationen, insbesondere sein jüngst erschienener Band "Totalitäre Profile: Zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandspotenzial seiner Gegner" (2017) – thematisierte er in seinem Vortrag die Europakonzeptionen des konservativen Widerstandes um Carl Friedrich Goerdeler (1884-1945) und des stärker links orientierten Widerstandes um Helmuth James Graf von Moltke (1907-1945). Spuren beider Europakonzepte prägen weiterhin den aktuellen Europadiskurs.
Die TU Chemnitz war darüber hinaus mit zwei weiteren Vortragenden vertreten, die einen Blick über die deutschen Grenzen warfen. Prof. em. Dr. Alfons Söllner, ehemaliger Inhaber der Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, referierte über den „Widerstand aus Sicht amerikanischer Emigranten“. Prof. Dr. Stefan Garsztecki, Inhaber der Professur für Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas, sprach über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Polen.
Zum Höhepunkt der Tagung zählte – neben der Ausstellungseröffnung „Der Führer Adolf Hitler ist tot. Attentat und Staatsstreichversuch am 20. Juli 1944“ des Militärhistorischen Museums Dresden – vor allem die Podiumsdiskussion mit den Kindern der Hitler-Attentäter. Dr. Rüdiger von Voss, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, Wilhelm Graf von Schwerin, Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Hase und Dr. Maria Theodora Freifrau von dem Bottlenberg-Landsberg schilderten eindrücklich ihre Erinnerungen an den 20. Juli 1945, an ihre Eltern und an die schwierige Zeit nach dem gescheiterten Attentat – bis hinein in die frühe Bundesrepublik. Die Podiumsdiskussion, moderiert vom MDR-Redaktionsleiter Stefan Nölke, wird am Dienstag, den 16. Juli 2019, um 22 Uhr im MDR-Radio Kultur gesendet.
Die Tagung war in doppelter Hinsicht aktuell – einerseits mahnte sie die zentralen Werte des Rechtsstaates an und betonte die Notwendigkeit, für diese Werte Verantwortung zu übernehmen. Andererseits verwies sie auf die Gefahren, die durch den derzeitigen Wandel in der Rezeption des Widerstandes entstehen. Die teilweise positive Resonanz auf die umstrittene neue Stauffenberg-Biographie von Thomas Karlauf "Stauffenberg: Porträt eines Attentäters" (2019) – ein Buch, das die Widerstandsmotive delegitimiert und diskreditiert – offenbart die zunehmende Erosion bisheriger geschichtspolitischer Leitbilder. Freiheit, Recht und Zivilcourage sind, das zeigte diese wissenschaftliche Tagung, das moralische Fundament unseres historisch gewachsenen Rechtsstaates, das auch erinnerungspolitisch gegenwärtig bleiben muss.
(Autorin: Antonia Sophia Podhraski)
Mario Steinebach
10.07.2019