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Pressemitteilung vom 10.02.1998

Hoffnungsschimmer für Empfänger künstlicher Hüften


Hoffnungsschimmer aus dem Uni-Labor für Empfänger künstlicher Hüften
Wie ein Palästinenser in Chemnitz die Entwicklung von Hüftprothesen
revolutionierte

(Pressemitteilung 38/98)

Was wären wir ohne unsere Hüfte - sie erst hat uns zum Menschen
gemacht. Denn mit ihr kam der aufrechte Gang. Erst dadurch konnte
unser Gehirn zu seiner heutigen Größe und Leistungsfähigkeit
heranwachsen. Aber Hüften sind weit mehr: sie wirken auch als
kraftvolles erotisches Signal. "Elvis the Pelvis" (Elvis, das Becken)
zeigt das ebenso wie orientalische Bauchtänzerinnen. Allerdings kann
uns die Hüfte auch Probleme machen. Bei Kindern ist die - entweder
ererbte oder durch Schädigungen im Mutterleib hervorgerufene -
Hüftgelenkluxation die häufigste Skelettmißbildung überhaupt. Im Alter
hingegen sind Hüften oft abgenutzt und verschlissen. Kein Wunder,
müssen unsere Hüftgelenke doch laufend Kräfte übertragen, die ein
vielfaches unseres Körpergewichts ausmachen - und das auch noch in
dauernder Bewegung. Irgendwann muß dann ein künstliches Hüftgelenk aus
Metall, Kunststoff oder Keramik her, das in den Körper eingepflanzt
wird. Nicht einmal erlauchte Häupter sind davor gefeit, wie gerade
erst die britische Königinmutter gezeigt hat: Die 97jährige Dame
stürzte so unglücklich, daß dabei ihre linke Hüfte brach. Bereits 1995
war "Queen Mum" rechts ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt worden.

Bei uns in Deutschland muß immerhin jeder 25. damit rechnen, daß ihn
irgendwann das gleiche Schicksal ereilt: rund 80.000 künstliche
Hüftgelenke werden hierzulande jedes Jahr implantiert. Weltweit sind
es sogar fast eine Million Kunsthüften-Empfänger jährlich, denen ein
Leben im Rollstuhl oder ein steifes Becken erpart bleibt. Die
Routineoperation gilt als harmlos - Linderung bringt sie aber dennoch
nicht immer. Jeder fünfte Patient klagt anschließend über Schmerzen.
Nicht selten erweist sich die Verbindung zwischen der Innenprothese
und dem sie umgebenden Knochen als instabil. Dann wird ein weiterer
Eingriff nötig. Selbst im günstigsten Fall hält eine künstliche Hüfte
allenfalls 15 Jahre - vor allem für jüngere Patienten ein Problem. Die
mangelnde Haltbarkeit hat verschiedene Gründe. Da sind zum einen
feinste Bewegungen der eingesetzten Prothese gegenüber dem sie
umgebenden Knochen. Der wiederum empfindet das zumeist der Länge nach
im Oberschenkelknochen verankerte Metall- oder Keramikteil als Störung
- und wehrt sich: er fängt im mittleren Bereich an zu wachsen, im
oberen dagegen wird Knochensubstanz abgebaut. Und da ist schließlich
die Tatsache, daß das künstliche Gelenk den Oberschenkelknochen ganz
anders belastet als die Naturhüfte.

Abhilfe verspricht jetzt ein neuartiges künstliches Hüftgelenk, das
Maschinenbauer der Chemnitzer Uni entwickelt haben und das der Körper
wesentlich besser verträgt als bisherige Kunsthüften. Haupturheber ist
der erst 27jährige gebürtige Palästinenser Dr. Gamal (sprich:
Dschamal) Baroud. Im Labor von Prof. Reiner Kreißig gelang es ihm mit
Hilfe des Computers, ein völlig neues Kunstgelenk auf die Beine zu
stellen. Es berücksichtigt die Belastungsverhältnisse im Knochen und
stellt sie so weit wie möglich wieder her - Voraussetzung für eine
erheblich längere Haltbarkeit. Die neue Hüftprothese, an der auch noch
der Diplom-Ingenieur Klaus Brämer mitgearbeitet hat, ist von den
dreien inzwischen zum Patent angemeldet worden. Mit der
Medizintechnik-Firma Endoplus aus dem schweizerischen Luzern arbeiten
die Chemnitzer Wissenschaftler bereits eng zusammen.

Maschinenbau und künstliche Hüften - das mag zunächst als Widerspruch
erscheinen, schließlich ist der Mensch keine Maschine. Doch wenn
menschliche Knochen beansprucht werden, so funktioniert dies ganz
schnöde nach den Gesetzen der Mechanik. Freilich sind unsere Gebeine
nahezu perfekt und können kaum noch verbessert werden. Das liegt
daran, daß sie sich in einem Zeitraum von mehreren hunderttausend
Jahren entwickelt haben. Folglich, so überlegte sich der junge
Chemnitzer Wissenschaftler, müsse ein künstliches Hüftgelenk am besten
so aufgebaut sein, daß es die natürlichen Verhältnisse im Körper
möglichst weitgehend nachahmt - und genau das tun herkömmliche
Kunsthüften nicht.

Zunächst machte sich Dr. Baroud deshalb daran, die genaue
Beanspruchung der einzelnen Knochen im Beckenbereich zu ermitteln.
Dazu "zerlegte" er den Oberschenkelknochen im Computer in mehr als
3.000 würfelförmige Teilbereiche. Dieses Verfahren, nach dem zum
Beispiel auch die Statik von Häusern berechnet wird, heißt unter
Forschern "Finite-Elemente-Methode" (FEM). Sie ermöglicht es,
Verformungen und Spannungen genau zu bestimmen. Danach wandte der
Wissenschaftler das Verfahren auf herkömmliche Hüftprothesen an.
Ergebnis: Weil Knochen und Einsatz unterschiedlich steif sind,
belasten sie den Oberschenkel ungleichmäßig, in einigen Bereichen
übermäßig stark, in anderen dagegen kaum. Dies ist der Grund für den
Umbau des Knochens und den nachfolgenden Verlust der Stabilität. Die
Mediziner sprechen hier von einer "aseptischen Lockerung", eine
erneute Operation ist über kurz oder lang nötig.

Die zuvor gewonnenen Daten benutzte Dr. Baroud dann dazu, sein
Knochenimplantat zu entwicklen. Immer wieder änderte er das Konzept,
immer wieder ließ er seinen Computer rechnen, um herauszufinden, wie
der Knochen am günstigsten beansprucht wird. Bis er schließlich das Ei
des Kolumbus gefunden hatte: eine künstliche Hüfte ganz neuer Art.

Die Baroud-Hüfte - von ihm selbst Schenkelhals-Totalhüftendoprothese
genannt - ist mehrteilig und besteht im wesentlichen aus einem Schaft
und einer Buchse. Beide sind aus dem leichten, aber äußerst stabilen
und haltbaren Metall Titan hergestellt, das auch im Flugzeugbau und in
der Raumfahrt angewandt wird. Die Buchse wird aber nicht der Länge
nach eingesetzt, sondern schräg zum Körper hin in den Schenkelhals,
das obere Ende des Oberschenkelknochens. Sie stützt sich mit ihrem
elastischen Kragen auf dem besonders festen äußeren Bereich des
Knochens ab, der sogenannten Kortikalis. In diese Buchse ragt der
elastische Schaft. Auch er besitzt einen nachgiebigen Kragen, der auf
dem Buchsenkragen aufliegt und so ebenfalls den Druck abfängt. Schaft
und Buchse sind von außen lose miteinander verschraubt.

Das entscheidende Plus der neuartigen Hüfte ist ihre Nachgiebigkeit:
Der flexible Schaft und die beiden Kragen verteilen die Kräfte
wesentlich besser und auf einer größeren Fläche als herkömmliche
Hüftprothesen. Minimale Bewegungen, die bei Überlastungen schon einmal
auftreten können, wirken nur zwischen den einzelnen Teilen der
Prothese, nicht aber, wie bisher, zwischen Prothese und Knochen. Daher
wird auch kein unerwünschtes Weichgewebe gebildet, das sonst
üblicherweise zu großen Schwierigkeiten führt. Auch der schädliche
Knochenumbau, der zu der bereits angesprochenen aseptischen Lockerung
führt, wird vermieden. Selbst mit besonders starken Kräften, wie sie
etwa bei einem Sturz auftreten können, so hat Dr. Baroud berechnet,
wird das neue Kunstgelenk problemlos fertig. Und sollte es aus
irgendeinem Grund später doch einmal nötig sein, eine herkömmliche
Prothese einzupflanzen, so ist auch das möglich, da die Knochenmasse
erhalten bleibt. Die Baroud-Hüfte ist außerdem leicht herzustellen, da
alle Teile rotationssymmetrisch sind.

Die Baroud-Hüfte soll sobald als möglich bei den ersten Patienten
eingesetzt werden. Die werden dann laufend untersucht, um
festzustellen, ob sich die in das neue Gelenk gesetzten Erwartungen
erfüllen.

Der seit neun Jahren in Deutschland lebende und perfekt deutsch
sprechende Dr. Baroud hatte übrigens auch früher schon für Furore
gesorgt: Sein erstes Diplom an der Fachhochschule Aachen (Note: sehr
gut) schaffte er in sechs Semestern - normal sind acht. Um ein Haar
hätte er deshalb Ärger mit der allmächtigen Bürokratie gekriegt: Laut
Vorschrift darf nämlich das Studium frühestens nach sieben Semestern
abgeschlossen werden. Für seine Doktorarbeit - nur besonders fähigen
Fachhochschulabsolventen steht dieser Weg überhaupt offen - mußte er
an eine Uni wechseln. Seine Wahl fiel auf Chemnitz, weil die TU dort
besonders gut ausgestattet und Bürokratie ein Fremdwort ist. Obwohl es
eigentlich nicht nötig gewesen wäre, holte er noch schnell sein
Uni-Diplom nach, um sich dann der Doktorarbeit zu widmen. Mit 26 - die
meisten anderen drücken dann noch die Hörsaalbank - war auch das
geschafft.

Kein Wunder, daß auch andere auf Dr. Baroud aufmerksam geworden sind,
wie etwa der Biomechanik-Papst Prof. Nigg. Der hörte letztes Jahr im
kanadischen Banff auf einer internationalen Fachkonferenz einen
Vortrag von ihm - und bot ihm spontan einen Job im Human Performance
Laboratory (HPL, etwa: Labor zur Untersuchung der menschlichen
Leistungsfähigkeit) an der Universität von Calgary in Kanada an. Erst
vor wenigen Wochen erhielt Prof. Nigg den Preis des IOC
(Internationales Olympisches Komitee) für Biomechanik. Im weltweit
renommierten HPL verstärkt Dr. Baroud seit Mitte Januar das
Forscherteam. Für Chemnitz wird er trotzdem nicht verloren sein: er
will sich hier in Biomechanik habilitieren, bei seinem Doktorvater
Prof. Kreißig. Wenn alles klappt, könnte er mit 30 fertig sein - und
mit einigem Glück einer der jüngsten Professoren Deutschlands  werden.
Sogar Palästinenser-Präsident Yassir Arafat ist bereits auf ihn
aufmerksam geworden. Er lud seinen begabten Landsmann, dessen Eltern
1948 von den Israelis aus der Nähe Tel Avivs vertrieben worden waren,
jüngst privat zu sich ein und aß mit ihm zu Mittag.

(Autor: Hubert J. Gieß)

Hinweis für die Medien: Zu diesem Beitrag können Sie ein Foto in der
Pressestelle anfordern. Es zeigt Dr. Gamal Baroud vor einer Tafel mit
einem Modell eines menschlichen Hüftgelenks in den Händen. Außerdem
verweisen wir auf eine grafische Abbildung, die Sie ebenfalls in der
Pressestelle anfordern können.

Weitere Informationen: Technische Universität Chemnitz, Fakultät für
Maschinenbau und Verfahrenstechnik, Straße der Nationen 62, 09107
Chemnitz, Prof. Dr. Reiner Kreißig, Tel. 0371/531-1242, Fax
0371/531-1471, e-mail: reiner.kreissig@mb1.tu-chemnitz.de oder Dr.
Gamal Baroud selbst unter der e-mail-Adresse
gamal@champagne.kin.ucalgary.ca