Pressemitteilung vom 13.10.2010
"Traumschiffe des Sozialismus"
"Traumschiffe des Sozialismus"Dr. Andreas Stirn beschäftigte sich in seiner Dissertation an der TU Chemnitz mit der Geschichte der DDR-Urlauberschiffe
Strahlend blau war der Himmel über Wismar am 25. Juni 1960. Tausende Schaulustige hatten sich auf der Mathias-Thesen-Werft versammelt. An diesem Tag wurde der erste Neubau eines DDR- Kreuzfahrtschiffes auf den Namen "Fritz Heckert" getauft. "Zwischen 1960 und 1990 schickte die DDR einige hunderttausend verdiente Werktätige auf drei Urlauberschiffen nach Leningrad, Helsinki und Havanna", berichtet Dr. Andreas Stirn, der an der TU Chemnitz zum Thema "Traumschiffe des Sozialismus. Die Geschichte der DDR- Urlauberschiffe 1953 bis 1990" promoviert wurde. "Vor allem die staatstragende Klasse der Arbeiter sollte durch das Versprechen eines besonderen Reiseerlebnisses zur Steigerung ihrer Arbeitsleistungen animiert werden. Für die meisten DDR-Bürger blieben die Schiffe jedoch unerreichbar ferne Sehnsuchtsorte: ein Versprechen von Reisefreiheit und Überfluss, das zugleich auf die alltäglichen Grenzen und Mängel des Staates verwies", so Stirn weiter. "Andreas Stirn liefert mit seiner Arbeit die erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung der DDR-Urlauberschiffe: von den frühen Planungen über die republikweite Spendenaktion zum Bau der `Fritz Heckert´, die Reisen für die `Besten der DDR´ und tollkühne Fluchten nach dem Mauerbau bis zur Begegnung von Westpassagieren und Ostpersonal auf dem dritten Kreuzfahrtschiff, der `Arkona´", sagt Prof. Dr. Eckhard Jesse, Inhaber der Professur für Politische Systeme und Politische Institutionen sowie Betreuer der Dissertation.
Im Sommer 1958 war die Lage in der DDR ernst: Täglich verließen Hunderte das Land gen Westen. Die Staatsführung wollte ein Signal setzen, sie verkündete den Bau eines Kreuzfahrtschiffes für Arbeiter und Bauern. Zudem wollte sie beweisen, dass der Wohlstand in der DDR wächst. Noch bevor die "Fritz Heckert" in Wismar vom Stapel lief, kaufte die DDR 1959 einen schwedischen Passagierdampfer, den sie in "Völkerfreundschaft" umtaufte. Als das Schiff Anfang 1960 in See stach, brachten die Zeitungen ganz ungewohnte Motive: DDR-Bürger lässig mit Sonnenbrille vor Pyramiden oder auf der Akropolis. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 war es damit vorbei. "Die Traumschiffe waren wenige Monate nach ihrer Indienststellung nicht mehr das, was sie sein sollten: ein Symbol für Wohlstand und Reisefreiheit", erklärt Stirn. In seiner Doktorarbeit untersucht Stirn den Betrieb der Schiffe unter den Bedingungen von Mauer und Misswirtschaft, analysiert die mit ihnen verknüpfte Propaganda und bewertet deren Erfolge. Damit will er zur Analyse der zwischen Massenmobilisierung und Privilegierung angesiedelten "weichen" Herrschaftstechniken der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) beitragen. Die sicherheitspolitisch- ideologischen Grenzen des Kreuzfahrtprojektes zeichneten sich schon vor dem Mauerfall ab. "Die Haltung der Partei- und Gewerkschaftsführung gegenüber den Kreuzfahrten, die zunächst vor allem ins kapitalistische Ausland gingen, war höchst ambivalent: Einerseits spekulierten die Funktionäre, etwas vom Glanz der Schiffe könne auch auf die eigene Herrschaft abfärben. Zugleich fürchteten sie, die Konfrontation mit dem höheren Lebensniveau, gerade in den skandinavischen Ländern, könnte bei den Passagieren die Zweifel an der Überlegenheit des Sozialismus mehren", erklärt Stirn.
"Mit großem Aufwand und nicht immer durchschlagendem Erfolg versuchte die Führung der SED sowie des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, das Risiko eines Kontrollverlustes zu minimieren. Noch bevor das erste Schiff in See gestochen war, begann das Ministerium für Staatssicherheit, die geheimdienstliche Überwachung der Urlauberschiffe vorzubereiten", sagt Stirn und ergänzt: "Mit dem Mauerbau kam zur ideologischen Grenze die physische aus Stacheldraht und Minenfeldern hinzu. Eine Schiffsreise bot nun eine der letzten relativ ungefährlichen Fluchtmöglichkeiten." Wagemutige ließen sich von Booten des Bundesgrenzschutzes aus der Ostsee fischen oder sprangen im Bosporus über die Reling. "Über die elektronischen Medien der Bundesrepublik wurden diese oft spektakulären Fluchten auch innerhalb der DDR bekannt und konterkarierten die schönfärberischen Darstellungen der DDR-Medien, die die Schiffe stets als Orte der Harmonie und des Vergnügens präsentierten", erklärt Stirn und fügt hinzu: "In der Folge wurden risikoreiche Routen aus dem Programm genommen, die Reisekandidaten im Vorfeld mehr oder weniger gründlich durch das Ministerium für Staatssicherheit überprüft und die Passagiere an Bord von inoffiziellen und hauptamtlichen Mitarbeitern überwacht." Die Auswahl- und Überwachungsmaßnahmen wurden im Laufe der Jahre immer weiter perfektioniert. Dies zeigte einige Erfolge: Die Zahl der Republikfluchten gingen im Laufe der Jahre immer weiter zurück.
"Ebenso bedeutsam wie die propagandistischen Verwertungsmöglichkeiten der Schiffsreisen war deren Einbindung in das Privilegiensystem, mit dem die SED die Funktionsträger ihrer Herrschaft bei Laune hielt", berichtet Stirn. Jährlich seien einige hundert verdiente Parteiarbeiter mit einer Kreuzfahrt versorgt worden. "Betriebe wie die Wismut oder das Automobilwerk Eisenach bekamen gesonderte Kreuzfahrtkontingente zugeteilt", so der Berliner weiter, der eher zufällig auf das Thema seiner Promotion gestoßen war: "Mein Vater hat einmal nebenbei erwähnt, dass er in den 1960er Jahren mit der Fritz Heckert nach Leningrad gefahren sei", erzählt Stirn und fügt hinzu: "Kreuzfahrtschiffe und Sozialismus - das war für mich eine merkwürdige und widersprüchliche Kombination. Ich wollte wissen, wie beides zusammenpasste, obwohl es nicht zusammenzupassen schien. Da es keine wissenschaftliche Literatur zum Thema gab, musste ich selbst ein Buch darüber schreiben. Neugier auf das Unbekannte und eine gewisse ironische Distanz zur DDR selbst kamen dabei zusammen." Die Doktorarbeit ist im Metropol-Verlag erschienen.
Bibliographische Angaben: Andreas Stirn: Traumschiffe des Sozialismus, Berlin 2010, Metropol-Verlag, ISBN 978-3940938794, 29,90 Euro.