Zivilgesellschaft trotzt dem Druck auch in repressiven Regimen
Chemnitzer Protest-Forscher Dr. Piotr Kocyba ist Herausgeber eines Themenschwerpunkts mit internationalen Forschungsbeiträgen zur Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Gestaltungsräume - Veröffentlichung im "De Gruyter"-Verlag
Es ist ein besorgniserregender Trend: Autoritäre und illiberale Regime setzen freie Zivilgesellschaften zunehmend unter Druck. Dabei geraten vor allem Bewegungen ins Visier, die sich für eine liberale und offene Gesellschaft einsetzen. „Zweifelsohne lässt sich global ein Trend beobachten, demgemäß Gestaltungsräume für zivilgesellschaftliches Engagement schmelzen“, betont Dr. Piotr Kocyba, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas (Prof. Dr. Stefan Garsztecki) der Technischen Universität Chemnitz. Beispiele dafür seien der Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny, die Stigmatisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen in Ungarn oder staatlich gelenkte Hetz-Kampagnen gegen sexuelle Minderheiten wie in Polen. Kocyba kann diese Entwicklungen gut einschätzen, denn gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Aleksandra Lewicki, Associate Professor an der University of Sussex (UK), hat er das aktuelle Themenheft „Shrinking Spaces für die Zivilgesellschaft. Aktivismus unter illiberalen Vorzeichen“ im „Forschungsjournal Soziale Bewegungen“ herausgegeben, das im De Gruyter-Verlag erscheint. Versammelt sind darin Beiträge internationaler Expertinnen und Experten, die zu zivilgesellschaftlicher Mobilisierung, sozialen Bewegungen sowie illiberalen Regimen forschen. Kocyba selbst hat für das vorliegende Themenheft neben dem Editorial einen Forschungsbeitrag mit dem Titel „Lethargie, zivilgesellschaftlicher Aufruhr und Shrinking Spaces. Protest- und Bewegungsforschung in Ostmitteleuropa“ verfasst.
Darin kommt er gemeinsam mit Dr. Dániel Mikecz zu dem Ergebnis, dass etwa Polen und Ungarn nicht nur einen ebenso spannenden wie unerforschten Gegenstand für die Bewegungsforschung darstellen, sondern dass mittlerweile auch Kolleginnen und Kollegen Unterstützung und Solidarität benötigen – dort nämlich, wo die die Zivilgesellschaften unter Druck geraten, finden sich auch kritische Akademikerinnen und Akademiker einem zunehmend feindlich eingestellten Staat ausgesetzt.
Bedenkliche Entwicklungen auch in den sog. westlichen Demokratien – Fallbeispiel „Campact“
Kocyba und andere Beitragende stellen unter anderem fest, dass auch in den etablierten Demokratien die rechtlichen, gesellschaftlichen oder politischen Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement nicht immer ideal sind. Laut einer Übersicht von „Civicus“, einer internationalen NGO zur Stärkung der Zivilgesellschaft und Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements, leben nur drei Prozent der Weltbevölkerung in Staaten, in denen sich die Zivilgesellschaft frei entfalten kann.
Dabei ist, auch das zeigt das Themenheft, in westlichen Staaten oftmals keine aktive Unterdrückung, sondern eine nicht immer beabsichtigte Vernachlässigung der Zivilgesellschaft zu beobachten. In der Folge wirkt sich der wachsende Reformstau negativ auf die Gestaltungsmöglichkeiten entsprechender Organisationen aus. In der Bundesrepublik Deutschland ist die nicht mehr zeitgemäße Abgabenverordnung und der daraus resultierende Entzug der Gemeinnützigkeit für Akteure wie Campact ein illustratives Beispiel hierfür.
Trotz Unterdrückung kein grundsätzliches Schrumpfen der Zivilgesellschaft
Eine weitere Erkenntnis aus den Beiträgen: Die Einschränkung von Handlungsräumen für bürgerliches Engagement bringt nur selten die Zivilgesellschaft zum Schrumpfen. Selbst dort, wo autoritäre Machthaberinnen und Machthaber hart gegen unabhängige zivilgesellschaftliche Akteure vorgehen, scheint aktuell der Widerstand sowie das Repertoire zivilgesellschaftlicher Aktivitäten zu wachsen. Dies ist in Polen, Russland oder auch der Türkei zu beobachten. So haben weder Nawalny und sein Team noch die polnische oder türkische Frauenbewegung bedeutend an Unterstützerinnen und Unterstützern verloren oder ihre Aktivitäten zurückgefahren. Ganz im Gegenteil: „Es findet eine mühsame Auseinandersetzung um das Recht zivilgesellschaftlicher Akteure statt, sich frei und unbedrängt von staatlichen Repressionen selbst zu organisieren“, so Kocyba.
Veröffentlichung:
Piotr Kocyba und Dániel Mikecz: Lethargie, zivilgesellschaftlicher Aufruhr und Shrinking Spaces – Protest- und Bewegungsforschung in Ostmitteleuropa. Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Band 33: Heft 3.
DOI: https://doi.org/10.1515/fjsb-2020-0060
Hintergrund: Forschung zu gesellschaftlich drängenden Fragen im internationalen Maßstab
Nach der Beteiligung an zwei groß angelegten internationalen Studien zur Fridays-for-Future-Bewegung liegt nun ein weiterer Beitrag Kocybas vor, der relevante und drängende gesellschaftspolitische Entwicklungen im internationalen Maßstab beleuchtet. Gefördert wird Kocybas Forschung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit rund 350.000 Euro im Rahmen des Projekts „Zivilgesellschaftlicher Aufruhr in Polen“ (11/2018-10/2021).
Matthias Fejes
02.12.2020