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„Die einstige ‚natürliche Regierungspartei‘ Großbritanniens hält aktuell nur noch der Wille zum Macht- und Privilegien-Erhalt zusammen“

Prof. Dr. Klaus Stolz, Inhaber der Professur Britische und Amerikanische Kultur- und Länderstudien der TU Chemnitz, ordnet im Interview die aktuellen Entwicklungen im Vereinigten Königreich mit Blick auf den Rücktritt von Liz Truss sowie ihre Nachfolge durch Rishi Sunak als neuem Premierminister ein

Prof. Dr. Klaus Stolz ist Inhaber der Professur Britische und Amerikanische Kultur- und Länderstudien an der Technischen Universität Chemnitz und Experte für das Vereinigte Königreich. Im Interview ordnet er die aktuellen Entwicklungen um den Rücktritt von Liz Truss, ihre Nachfolge durch Rishi Sunak sowie die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ein.

Herr Professor Stolz, Liz Truss hat ihr Amt nach nur sechs Wochen abgegeben. Was waren die wesentlichen Gründe für den schnellen Abgang?

Dafür gibt es aus meiner Sicht vor allem drei eng miteinander verknüpfte Gründe: Das ist zum einen die rein ideologisch motivierte wirtschafts- und finanzpolitische Ausrichtung der Premierministerin Truss. Eine Premierministerin, die mit veralteten neoliberalen Rezepten gegen allen wirtschaftswissenschaftlichen Sachverstand agiert und sich schon im innerparteilichen Konkurrenzkampf anhören musste, dass ihre Politik Großbritannien in den Ruin treiben würde, die dann von den Märkten entsprechend abgestraft wird, eine völlige Kehrtwende vollzieht und schließlich mit Jeremy Hunt einen ausgewiesenen Gegner ihrer Politik zum Finanzminister machen muss, hat jede Autorität verloren. Zum anderen kommt die innerparteiliche Spaltung der Konservativen hinzu. Die einstige ‚natürliche Regierungspartei‘ Großbritanniens hält aktuell nur noch der Wille zum Macht- und Privilegien-Erhalt zusammen. Neben Wirtschafts- und Finanzfragen ist es vor allem weiterhin die Europapolitik, zum Beispiel die Nordirlandfrage, die die Partei spaltet. Vor allem aber hat sich in zwölf Jahren Regierungszeit und Postengeschacher eine Vielzahl persönlicher Animositäten entwickelt, die die Gräben weiter enorm vertiefen. Auch ein neuer Premierminister wird damit seine liebe Mühe haben.

Und drittens…

… hatte Liz Truss nie die notwendigen Eigenschaften für ihr Amt. Eine gute Regierungschefin braucht keinen Wirtschaftsnobelpreis, aber vollkommene Unkenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge ist ein No-Go. Politiker brauchen auch vor allem Verhandlungsgeschick und Überzeugungstalent. Sie sollten gut reden können und etwas Charisma wäre auch nicht schlecht. All das fehlte ihr komplett. Das wusste man bereits bei ihrem Amtsantritt, aber für die etwa 150.000 Mitglieder der Tories, die sie ins Amt gehoben haben, schien das letztlich nicht entscheidend gewesen zu sein.

Mit Truss ist nun nach May und Johnson bereits die bzw. der dritte Premier vor dem Ende der regulären Legislaturperiode gegangen. Eigentlich wären Neuwahlen angebracht. Warum sperren sich die Tories dagegen?

Das ist recht einfach zu erklären. Zunächst einmal gibt das die flexible britische Verfassung her. Die Vorstellung des ‚responsible party government‘ sieht vor, dass die Bevölkerung einer Partei das Vertrauen und Mandat zur Regierung ausspricht und diese dann eine Legislaturperiode lang relativ ungestört ihr Programm umsetzen darf. Aktuell ist vom Wahlprogramm der Tories von 2019 – oder auch nur von irgendeinem kohärenten Programm – nichts zu sehen. Der eigentliche Grund ist die Angst der Tories vor der zu erwartenden Wahlniederlage. Dabei geht es nicht nur um den Verlust des Regierungsauftrags. Bei der aktuellen Stimmungslage ginge es hier für einen Großteil der Tory-Abgeordneten auch um ganz existentielle Fragen –  nämlich den Verlust des Mandats und damit den Verlust des Jobs.

Welche Auswirkungen hat das für die britische Demokratie?

Das stärkt natürlich erneut die Unzufriedenheit der Britinnen und Briten mit der Politik und mit dem einstmals hochgelobten britischen Parlamentarismus – und ist damit Wasser auf die Mühlen der Populistinnen und Populisten in und außerhalb der beiden großen Parteien. Wenn Labour die Karten jetzt richtig spielt, könnte dies aber auch zum lange fälligen Regierungswechsel führen und damit zumindest auf den ersten Blick bestätigen, dass das System seine Funktion erfüllt. Die Schuld an der aktuellen Krisensituation nun aber ausschließlich bei den zentralen Protagonisten, also bei Liz Truss, Boris Johnson etc., zu suchen, ist insgesamt aber zu einfach. Das britische Regierungssystem hat erheblichen Reformbedarf. Die flexible britische Verfassung basierte auf einem breiten Elitenkonsens über die politischen Spielregeln und darüber, was man im Amt tun, aber vor allem auch was man lassen sollte. Dieser Konsens ist nicht erst seit Boris Johnsons Lügen und Egotrips zerbrochen. Das ganze Ausmaß der Misere wird jedoch besonders darin deutlich, dass eine Rückkehr Johnsons tatsächlich für kurze Zeit ernsthaft zur Debatte stand.

Seit gestern (24. Oktober 2022) ist klar, dass Rishi Sunak neuer britischer Premier wird. Welches Signal sendet sein Erfolg an die Bürgerinnen und Bürger?

Ich denke, dass die Neubesetzung allein wenig Signalwirkung haben wird. Es wird darauf ankommen, wie sich der Premier in den nächsten zwei Jahren, die er theoretisch noch zur Verfügung hat, anstellen wird. Hierbei gilt es zu bedenken, dass er nicht alleine regieren kann. Er hat zwar bei der Nominierung rund 200 Abgeordnete hinter sich versammeln können, doch hat er in der Fraktion auch starke Gegnerinnen und Gegner, die ihn nach wie vor für den Sturz Boris Johnsons verantwortlich machen. Neben den verschiedenen nationalen und internationalen Krisenherden wird es die größte Herausforderung für ihn sein, die Tory-Fraktion zu einen.

Sunak war unter Johnson Finanzminister und gilt durch seinen beruflichen Hintergrund als Finanzexperte. Erhofft man sich hier eine Beruhigung der Finanzmärkte, nachdem diese auf Truss' Politik sehr negativ reagiert und das Land in die Krise gestürzt hatten?

Man erhofft sich eine Beruhigung auf allen Ebenen, was für jeden Premierminister eine sehr schwierige Aufgabe wäre. Dabei wird er nicht umhinkommen, großen Teilen der britischen Bevölkerung weitere Entbehrungen aufzuerlegen. Dies wird aber gerade für ihn eine besondere Aufgabe sein. Labour wird sicher nicht müde werden, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Sunak selbst Multi-Millionär ist und seine Frau die Gewinne aus ihren Firmenbeteiligungen im Ausland versteuert.

Was kann Europa von einem Premierminister Sunak erwarten?

Auch hier gilt dasselbe: Anders als etwa Johnson – und auch Truss – steht Sunak persönlich eher für einen Kurs der Solidität und der Vertragstreue, etwa was das Nordirland-Protokoll angeht. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie er mit den Hardlinern in seiner Fraktion umgehen wird – beziehungsweise diese mit ihm.

Mit Blick auf Hochschulen und Forschungseinrichtungen: Wie sieht die Lage aktuell mit Blick auf die Zusammenarbeit zwischen Deutschland beziehungsweise der EU und dem Vereinigten Königreich aus?

Formal hat der Brexit natürlich viele institutionelle Kooperationsmöglichkeiten zerstört oder zumindest deutlich erschwert. Auch der Ausstieg der Briten aus dem Erasmus-Programm, der ja nicht zwingend war, ist sehr bedauerlich. Die britischen Kolleginnen und Kollegen klagen darüber, zunehmend von europäischen Forschungstöpfen abgeschnitten zu sein.

Welche Auswirkungen der aktuellen Lage spüren Sie persönlich als Forscher?

Persönlich betroffen bin ich davon nur am Rande. Forschungsaufenthalte an britischen Universitäten sind weiterhin möglich, wenn auch etwas umständlicher zu organisieren. Informelle Beziehungen und der inhaltliche Austausch sowieso. Auch was Erasmus angeht, verliert die TU Chemnitz meines Erachtens nicht allzu viel. Hier war es ohnehin schwierig, stabile Austauschbeziehungen zu organisieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Matthias Fejes
25.10.2022

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