Demokratie darf sich nicht lächerlich machen
Podiumsdiskussion unter dem Motto „Mit dir rede ich nicht!“ im Chemnitz Open Space suchte am 4. Juli 2024 nach Wegen hin zu einer Verbesserung der politischen Debattenkultur in unserer Gesellschaft
Wer kennt nicht die Situation? Ob bei der Familienfeier, beim Klassentreffen oder im Sportverein – bei so mancher Diskussion verhärten sich die Fronten, bis jemand sagt: „Mit dir rede ich nicht!“ Dieser Satz war am 4. Juli 2024 auch das Motto einer Podiumsdiskussion im Chemnitz Open Space, zu der das Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften und die Professur Europäische Regierungssysteme im Vergleich der Technischen Universität Chemnitz (TUC) eingeladen hatte. Vor dem Hintergrund des kürzlich stattgefundenen Europa- und Kommunalwahlkampfs und der anstehenden Landtagswahl in Sachsen wollte man mit diesem Veranstaltungsformat der zunehmenden Ignoranz oppositioneller Positionen sowie psychischer und physischer Gewalt in der politischen Auseinandersetzung nachgehen. Das Interesse daran war groß, denn alle Sitzplätze waren besetzt.
„Der politische Diskurs hat sich verroht. Mitglieder der Parteien sind im öffentlichen Raum Beleidigungen, Verleumdungen und sogar körperlicher Gewalt ausgesetzt. Es hat den Anschein, dass Teile der Gesellschaft nicht mehr zu einem konstruktiven politischen Austausch bereit sind“, schätzt Dr. Benjamin Höhne, Vertreter der Professur Europäische Regierungssysteme im Vergleich an der TU Chemnitz, ein, der im Podium Platz genommen hat. Andreas F. Rook, Moderator des MDR SACHSENSPIEGEL und der Sendung „FAKT IST!“, der privat an der Gesprächsrunde teilnahm, gab zu bedenken, dass es auch früher öffentliche Konfrontationen gab. „Auch ein Helmut Kohl wurde schon mit Eiern beworfen, in den 1990er-Jahren“, erinnert Rook. Heute würden Krisen und Konfliktherde wie die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine die Menschen viel stärker – auch existenziell – berühren, als die Finanzkrise vor zwanzig Jahren oder der Krieg in Afghanistan.
Anne Lena Mösken, stellvertretende Chefredakteurin der Freien Presse, äußerte sich erstaunt darüber, dass viele Menschen heute meinen, in einer Diktatur zu leben, wo sie ihre Meinung nicht frei äußern können. Dass dies in der Realität nicht stimmt und man sich facettenreich engagieren und diskutieren kann, beschrieb Vanessa Beyer von der GenZ-Initiative „(K)Einheit“ auf dem Podium. Sie berichtet, wie aus einem Filmprojekt, in dem junge Menschen ihre Perspektiven auf Erinnerungskultur und Sozialisation, die deutsche Einheit und ihre Zukunft im Osten schildern, ein bildungspolitisches Projekt wurde. Gerade ihre Generation benötige mehr Gehör. Aktuell geht es auch um die Lösung vieler Probleme in Sachsen – die vom Lehrermangel bis zur besseren Verkehrsanbindung auf dem Land reichen. Hier ist die Politik gefordert, Wahlversprechen müssen eingelöst und Beschlüsse etwa von Stadträten müssen umgesetzt werden – „damit sich Demokratie nicht lächerlich macht“, wie ein älterer Herr im Publikum anmerkt.
Maj-Britt Krone, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur Europäische Integration an der TU Chemnitz, die den Diskussionsabend moderierte, zeigte sich zufrieden mit der Veranstaltung, die eine Neuauflage erfahren soll – mit neuen Gesprächspartnern und ggf. auch mal an einem anderen Ort.
Verknüpfung mit der Kampagne „ZUSAMMENSTEHEN #TUCgether“ und der Initiative „Platz nehmen für Demokratie“
Die Podiumsdiskussion „Mit dir rede ich nicht!“ ist eingebunden in die Initiative „Platz nehmen für Demokratie“, die im Mai 2024 an der Universität Kassel gestartet ist und bundesweit immer mehr Unterstützerinnen und Unterstützer findet – so auch die TU Chemnitz. Kernidee dieser Initiative ist es, geeignete Orte zu bieten, um miteinander ins Gespräch zu kommen und die demokratische Debattenkultur zu stärken. Es geht insbesondere darum, einander zuzuhören, sich gegenseitig ernst zu nehmen, andere Meinungen auszuhalten und dabei Gemeinsames und Trennendes auszuloten. Diese Initiative flankiert die Kampagne ZUSAMMENSTEHEN #TUCgether, welche die TU Chemnitz im Mai 2024 startete und in der die Universität für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung, ein friedliches Zusammenleben sowie Toleranz, Vielfalt und Weltoffenheit eintritt.
Mario Steinebach
05.07.2024