Konsum bestimmt unser Leben
Dr. Manuel Schramm vom Institut für Europäische Geschichte der TU Chemnitz ist mit einem Aufsatz zur Geschichte der Konsumgesellschaft am Sammelband "Globalgeschichte" beteiligt
Marken, Shopping-Center, Supermärkte, Kredite, Massenproduktion: Die moderne Welt ist zu einer Konsumgesellschaft geworden. Konsum bestimmt das Leben wie kaum etwas anderes. Der Chemnitzer Historiker Dr. Manuel Schramm, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Technischen Universität, bestätigt dies: "Die Bedeutung des Konsums für die gegenwärtige Gesellschaft ist kaum mehr zu bezweifeln." Was bedeutet der Begriff "Konsum"? Wie ist die Konsumgesellschaft entstanden? Diese und weitere Fragen beantwortet Schramm in seinem Aufsatz "Entstehung der Konsumgesellschaft". Der Chemnitzer Wissenschaftler hat sich mit seiner Untersuchung am Sammelband "Globalgeschichte 1800-2010" beteiligt, der vom Wiener Sozialhistoriker Prof. Dr. Reinhard Sieder und von Dr. Ernst Langthaler vom Institut für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten herausgegeben wird. Der Band bietet eine Einführung in die Entstehung und Entwicklung moderner Gesellschaften in global vergleichender Perspektive. Dabei sind ökonomische, soziale, kulturelle, politische und ökologische Interaktionen wie Wirtschaft, Politik, Handel, Verkehr, Migrationen usw. zwischen Weltreligionen ebenso Thema wie die Ausbildung jener Infrastrukturen und Medien, z.B. Währungs- und Finanzsysteme; Verkehrs-; Transport- und Kommunikationssysteme, die diese Interaktionen möglich machen. Ein weiterer Schwerpunkt ist dem Vergleich von sozial-kulturellen Systemen und Prozessen in diversen Weltreligionen wie Arbeitsverhältnisse, Familie und Elternschaft, Religionen und Kriege gewidmet.
"Konsum war lange Zeit kein wissenschaftlicher Begriff", sagt Manuel Schramm und fügt hinzu: "In der Frühen Neuzeit wurde er wenig verwendet, vorwiegend im Zusammenhang mit Verbrauchssteuern. In der volkswirtschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts bedeutete er so viel wie Verzehr, Verbrauch bis hin zu Zerstörung und Wertminderung. Mit der Verbreitung von Konsumgenossenschaften im späten 19. Jahrhundert bürgerte sich im allgemeinen Sprachgebrauch Konsum als Kurzform für Konsumgenossenschaften ein." Erst im 20. Jahrhundert habe sich in den Wirtschaftswissenschaften das heutige Verständnis von Konsum als Befriedigung von Bedürfnissen mit wirtschaftlichen Mitteln durchgesetzt. Nach 1950 kam der Begriff der "Konsumgesellschaft" als Bezeichnung für eine Gesellschaft auf, die durch Massenkonsum gekennzeichnet ist. "Er entstand wohl nicht zufällig in den USA, die für manche Historiker die erste Konsumgesellschaft verkörpern", so Schramm.
Konsum ist jedoch nicht nur ein Phänomen des Zeitraums seit 1800. "Teile Westeuropas und Asiens sowie Nordamerika verfügten bereits vorher über komplexe Handelsnetze und verschiedene Formen von Kaufkonsum", erklärt Schramm. England, die Niederlande, Frankreich, Norditalien und Teile Deutschlands wiesen um 1800 bereits einen hohen Grad an Kommerzialisierung in der Landwirtschaft, eine blühende Konsumgüterproduktion, ein für vorindustrielle Verhältnisse sehr effizientes Transportwesen, persönliche Freiheit des Kaufens und Verkaufens sowie kommerzielle Werbung auf. "Frankreich und Großbritannien profitierten von ihren Kolonien, aber auch Länder ohne Kolonien führten zunehmend Kolonialwaren, in der Regel Genussmittel, ein", weiß Schramm und fügt hinzu: "Diese waren wichtig für die Kommerzialisierung der Wirtschaft, da Kaffee, Tee und Schokolade nicht im Inland angebaut werden konnten. Importierter Zucker war beispielsweise für die englischen Unterschichten während der Industrialisierung ein wichtiger Energielieferant. Dazu kamen der Import indischer Baumwolltuche und chinesischen Porzellans sowie die Übernahme des orientalischen Kaffeehauses, das sich ab dem späten 17. Jahrhundert in Europa verbreitete. Somit importierte das konsumorientierte Europa nicht nur Güter aus anderen Teilen der Welt, sondern auch Orte des Konsums sowie die dazugehörigen Rituale und Vergesellschaftungsformen."
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden so die Grundlagen für die rasche Entfaltung des Konsums in den folgenden Jahrzehnten gelegt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann das Zeitalter des Markenartikels, der zum Teil auf Genussmittel und Kosmetika beschränkt blieb. Die Werbung gewann ebenfalls an Bedeutung; die zunehmende Durchsetzung der Presse- und Gewerbefreiheit in Europa trug wesentlich dazu bei. "Besonders in der Zwischenkriegszeit wurden die Unterschiede zwischen den USA und Europa deutlicher sichtbar, da die US-Konsumenten in den Genuss standardisierter Massenkonsumgüter, vor allem von Autos und elektrischen Haushaltsgeräten, kamen, während auf der anderen Seite des Atlantiks die wirtschaftliche Entwicklung krisenhafter verlief", sagt Schramm und ergänzt: "Insbesondere die spektakuläre Verbreitung des Automobils in den USA erregte weltweit Aufsehen, da das Auto bis dahin als klassisches Luxusgut galt. Ebenso wichtig war die Einbeziehung neuer gesellschaftlicher Gruppen wie die Jugend in die Konsumgesellschaft."
Nach dem Zweiten Weltkrieg prägte die Spaltung Europas auch die Entwicklung des Konsums: "Der westliche Teil orientierte sich stark am US-amerikanischen Modell und übernahm viele Elemente desselben, ohne jedoch darin völlig aufzugehen. Europäische Besonderheiten bestehen weiter, etwa im Geschmack und in der Vielfalt des Konsums, in bestimmten Konsumpräferenzen oder in der größeren sozialen Absicherung durch den Sozialstaat. Der Konsum im östlichen Europa war hingegen geprägt durch die Zentralverwaltungswirtschaften. Durch die zentral gesteuerte Produktion und die administrativ festgesetzten Preise entstand immer wieder ein Mangel an Konsumgütern, aber auch Überfluss an solchen Waren, die an den Wünschen der Konsumenten vorbeigingen", so der Chemnitzer Historiker.
Bibliographische Angaben: Reinhard Sieder/Ernst Langthaler (Hrsg.): Globalgeschichte 1800-2010, Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2010, ISBN 978-3205785859, 29,90 Euro.
(Autorin: Anett Stromer)
Mario Steinebach
03.11.2010