"Die Negativfixierung auf ein grauenhaftes System führt nicht weiter"
Prof. Dr. Eckhard Jesse von der TU Chemnitz analysiert und beschreibt in seinem aktuellen Buch die vier Systemwechsel des 20. Jahrhunderts in Deutschland
Viermal wechselte im 20. Jahrhundert die politische Ordnung in Deutschland auf grundlegende Weise: Im November 1918 brach mit dem verlorenen Krieg die Monarchie zusammen und die "deutsche Republik" wurde ausgerufen. Schon am 19. Januar 1919 fanden im krisengeschüttelten Land Wahlen zur Nationalversammlung statt. Die erste deutsche Demokratie, die ungefestigte Weimarer Republik, wurde bereits 1933 von den Nationalsozialisten zerstört. 1945/49 schufen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs zwei deutsche Staaten in konkurrierenden Machtblöcken. 1989/90 fiel die Mauer und Deutschland wurde friedlich wiedervereinigt. "Die beiden Jahre 1949 und 1990 sind für die Geschichte der Bundesrepublik die Hauptzäsuren", erklärt Prof. Dr. Eckhard Jesse von der TU Chemnitz, Professur Politische Systeme und Politische Institutionen, und fügt hinzu: "Damit wurden unterschiedliche Konsequenzen aus der Vergangenheit gezogen und gegensätzliche Fundamente für die Zukunft gelegt. Während sich die Bundesrepublik zunehmend demokratisch konsolidierte, blieb die DDR ohne demokratische Legitimation, ein Staat auf Abruf, der dem schrittweisen Untergang geweiht war. Als die Sowjetunion nicht mehr bereit war, die SED-Diktatur zu stützen, stürzte das Regime im Revolutionsjahr 1989." Innerhalb von sieben Jahrzehnten erlebte Deutschland damit vier Systemwechsel: "Die deutsche Geschichte des letzten Jahrhunderts ist eine Geschichte der Brüche. Kaum ein Land Europas weist so viele fundamentale Einschnitte in einer vergleichsweise kurzen Zeit auf. Umso mehr erstaunt es, dass nur wenige Studien sich dieser Zäsuren in vergleichender Perspektive annehmen." In seiner neuesten Monographie "Systemwechsel in Deutschland 1918/19 - 1933 - 1945/49 - 1989/90" analysiert und beschreibt Jesse Systemwechsel auf deutschem Boden. "Die Hauptfragestellung lautet: Was sind die zentralen Gründe für die Umbrüche - den Sturz des Alten wie den Sieg des Neuen. Es geht ferner darum, die jeweiligen Rahmenbedingungen und Ursachen wie die Ergebnisse und Folgen Revue passieren zu lassen", sagt der Chemnitzer Politikwissenschaftler. Besonderes Gewicht kommt dabei der vergleichenden Betrachtung zu. Die Beschreibung der Umbrüche wird ergänzt durch einen Vergleich der beiden Diktaturen Drittes Reich und DDR wie der beiden Demokratien Weimarer Republik und Bundesrepublik Deutschland. 20 Jahre nach Wiedererlangung der deutschen Einheit bestimmt Jesse so die Position des politischen Systems aus der eigenen Geschichte.
"Systemwechsel meint den Übergang von einem Systemtypus zu einem anderen, entweder von der Diktatur zur Demokratie oder von der Demokratie zur Diktatur", erklärt Jesse und fügt hinzu: "Wer Demokratie und Diktatur in je zwei Typen auffächert, kommt zu vier Arten der Systemwechsel: von einer totalitären Diktatur zu einer funktionierenden Demokratie, von einer autoritären Diktatur zu einer defekten Demokratie, von einer autoritären Diktatur zu einer funktionierenden Demokratie und - wie auch vielfach Wirklichkeit geworden - von einer Demokratie zur Diktatur." Wie immer die Gewichtung ausfällt: Große, im Negativen wie im Positiven, historische Gestalten haben der deutschen Entwicklung ihren Stempel aufgedrückt. "Mit Sicherheit wäre die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert ohne den Diktator Adolf Hitler und ohne den Demokraten Konrad Adenauer, um zwei markante Nahmen zu nennen, anders verlaufen. Strukturelle Gegebenheiten, wie etwa die geographische Mittellage Deutschlands, spielten ebenfalls eine Rolle. Weichenstellungen erfolgten aus einem komplexen Bündel an Faktoren", so Jesse in der Einführung der Monographie. Im Kapitel zwei des Bandes zeichnet der Autor die politikwissenschaftliche Systemwechselforschung nach. Sein Blick ist auf die drei Transformationsphasen gerichtet: Ende des alten Systems, Institutionalisierung sowie Konsolidierung des neuen Systems.
Bei der Einschätzung der Systemwechsel liegt ein hohes Maß an Übereinstimmung vor. Die Gesellschaft ist heute weniger polarisiert als zur Weimarer Zeit. "1918 und 1989 handelte es sich um demokratische Systemwechsel. 1933 dagegen war dies offenkundig nicht der Fall. Der demokratische Systemwechsel 1945 erfuhr im Westen des Landes eine Persistenz, ‚kippte‘ im Osten jedoch in eine andere Diktatur ‚um‘", resümiert Jesse und fügt hinzu: "Fast ebenso deutlich fällt das Votum der öffentlichen Meinung zu dem Mirakel 1989/90 aus." Mit Blick auf die Gegenwart und absehbare Zukunft spreche nichts für einen Systemwechsel wie 1918, 1933, 1945 und 1989. "Die sich vielfältig - zum Beispiel in der positiv gewandelten Erinnerungskultur gegenüber dem 20. Juli 1944 oder dem 17. Juni 1953 - andeutende Abschwächung der negativen Identität aufgrund der so bitteren wie leidvollen Erfahrungen stärkt das Gemeinwesen", weiß Jesse. "Keines kann auf Dauer gedeihen, das seine Existenzberechtigung ausschließlich aus der Negativfixierung auf ein grauenhaftes System bezieht. Die Mehrheit der jungen Generation weiß dies. Sie weiß aber auch: Nationalismus, der in eine Sackgasse geführt hat, verbietet sich. Der Wandel seit der deutschen Einheit zu einem entspannten Patriotismus ist augenfällig", so der Politikwissenschaftler weiter. Ungeachtet zahlreicher Herausforderungen: Das vereinigte Deutschland könne - 20 Jahre nach der Einheit - gelassen in die Zukunft blicken und müsse nicht selbstquälerisch zurückschauen, wohl aber aufgeklärt.
Bibliographische Angaben: Eckhard Jesse: Systemwechsel in Deutschland: 1918/19 - 1933 - 1945/49 - 1989/90, 280 Seiten, Köln 2010, Böhlau Verlag, ISBN 978-3412205997, 24,90 Euro.
(Autorin: Anett Stromer)
Katharina Thehos
18.11.2010