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Opportunismus und Finanzmärkte

Im Gespräch: Prof. Dr. Friedrich Thießen, Professur für Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre, beschreibt in seinem neuen Buch, warum es an Finanzmärkten besondere Gefährdungspotenziale gibt

  • Prof. Dr. Friedrich Thießen ist Professor für Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Foto: Bildarchiv der Pressestelle/Christine Kornack

Das Fachbuch "Opportunismus und Finanzmärkte" ist nach Aussage des Autors Prof. Dr. Friedrich Thießen, Inhaber der Professur für Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre an der Technischen Universität Chemnitz, das erste Buch, das neurobiologische Erkenntnisse nutzt, um das Finanzmarktgeschehen abzuleiten. Darüber sprach mit ihm Mario Steinebach, Leiter der Pressestelle der TU.

Herr Prof. Thießen, was verstehen Sie unter Opportunismus?

Opportunismus ist das Vorspiegeln von Vorteilen, die jemand, der ein Produkt oder eine Leistung erwirbt, angeblich hat, die aber - bei Lichte betrachtet - gar nicht vorhanden sind. Ein solches Vortäuschen von Vorteilen wird in modernen Marktwirtschaften dadurch erleichtert, dass durch die ungeheure Spezialisierung auf spezifische Teilaspekte des Ganzen niemand - außer auf seinem Spezialgebiet - mehr als einen Bruchteil aller notwendigen Informationen besitzt. Den Rest muss man raten. Und dieses Raten verläuft nach bestimmten kognitiv vorgegebenen Regeln. Unser Gehirn bestimmt, nach welchen Prinzipien das Raten abläuft. Die dabei entstehenden Regelmäßigkeiten werden auch auf den Finanzmärkten ausgenutzt.

Können Sie einige Beispiele nennen?

Ja, in unserem Buch haben wir Hunderte von Beispielen gesammelt. Ich lasse einmal die Finanzindustrie außen vor. So kommt es beispielsweise dem TÜV merkwürdig vor, dass die Abfüllmaschinen für Getränke und andere Lebensmittel zwar immer perfekter werden, aber in der Bestimmung der Füllmenge können die Maschinen leider keine Präzision erreichen. Die auf der Verpackung angezeigten Füllmengen können sie auch leider nicht genau einhalten. Es ist also systematisch zuwenig drin. Dieser Fall zeigt, wie in der Industrie opportunistisch zusammengearbeitet wird, denn die Hersteller der Maschinen sind ja ganz andere als diejenigen, welche sie dann nutzen. Der kleine Extravorteil wird ganz systematisch produziert. Auch in Italien gab es vor Kurzem einen ganz verrückten Fall: Eine Stadtverwaltung hatte willkürlich die Länge der Gelbphasen an Ampeln verkürzt bzw. auf Null abgesenkt und Blitzer aufgestellt. Die Autofahrer, welche die frühere Regelung noch im Kopf hatten, wurden reihenweise beim Fahren bei Rot erwischt, denn auf Grün folgte nun unmittelbar Rot - und mussten zahlen.

Kann man daraus allgemeine Lehren ziehen?

Solche opportunistischen Verhaltensweisen gibt es überall. Das Beispiel aus Italien zeigt, wie es funktioniert. Wir Menschen können gar nicht alles wissen. Deshalb entscheiden wir mit Hilfe von Faustregeln, Heuristiken genannt, die wir aus unserer Erfahrung heraus entwickeln. Das wird ausgenutzt von denjenigen, die unser Verhalten beobachten. Ein Schuhverkäufer erzählte mir einmal, dass sich die Kunden meistens für die Schuhe entschieden, die sie zuerst anprobiert hatten. Diese Regelmäßigkeit wird auch einem wenig intelligenten Verkäufer leicht auffallen, während sie für den Käufer kaum merklich ist. Der Verkäufer kann damit die Marke mit der höchsten Marge gut promoten. Er würde aber vermutlich nie zugeben, dass er opportunistisch handelt.

Herr Prof. Thießen, ist Opportunismus deshalb böse?

In vielen Fällen sicherlich. Aber in anderen Fällen muss das nicht gelten. Wie soll ein Verkäufer merken, dass der Käufer das Gut oder die Leistung unter ganz falschen Erwartungen kauft? Ein schöner Fall ist folgender: Eine bekannte deutsche Automarke hat den Bordcomputer eines Modells so programmiert, dass beim Beschleunigen kein Verbrauchswert von mehr als 30 Liter pro 100 Kilometer angezeigt wird. Damit zeigt das Gerät, dessen bloße Existenz schon Exaktheit suggeriert, falsche Werte an, und man könnte von böswilligem Opportunismus sprechen. Aber vielleicht wollen die Kunden, die solche Autos kaufen, ja gerade nicht wissen, was der Tritt aufs Gaspedal kostet? Vielleicht ist die Maßnahme ja eine nette Hilfestellung, mehr Spaß im Leben zu haben.

Ihr Buch beleuchtet schwerpunktmäßig den Finanzmarkt, nennen Sie nun bitte ein Beispiel aus diesem Bereich!

Gehen wir in die USA. Dort gibt es einen Markt für Anleihen von Kommunen, an dem fast zwei Millionen verschiedene Anleihen gehandelt werden. Allerdings gibt es keinen wirklichen Handel. Der Markt ist illiquide. Nun hatten Banken, die den Kommunen helfen, für ihre Kommunalanleihen Käufer zu finden, den Käufern versprochen, falls sie die Anleihen vor Fälligkeit wieder verkaufen wollen, diese mangels sonstiger Interessenten selbst zu erwerben und dabei finanzmathematisch fair gerechnete Preise zu stellen. Das aber haben sie nicht gemacht. Die Preise waren grottenschlecht und unfair gerechnet, was die Kunden nicht überprüfen konnten, weil es ja keinen Markt gab, an dem man sich orientieren konnte. Die Kunden hatten den Banken einfach geglaubt. Irgendwann flog das System auf, und die Banken zahlten eine beträchtliche Strafe. Es waren übrigens viele namhafte Banken darunter.

Wie sollte man sich schützen? Gibt es Möglichkeiten, nicht zu den Opfern von Opportunismus zu gehören?

Das Beispiel aus Amerika zeigt schon das Erste: Man muss immer misstrauisch sein. Der Mensch verfügt über eine Reihe von Misstrauensheuristiken, deren Anwendung vor dem Schlimmsten schützt. Im Buch habe ich erläutert, um was es sich handelt. Daneben gibt es weitere Maßnahmen: Man muss möglichst viele eigene Erfahrungen sammeln. Mehrere kleine Geschäfte sind insoweit nützlicher als ein großes. Dann ist es sinnvoll, sich mit anderen auszutauschen, um von deren Erfahrungen zu lernen.

Und wenn man nicht auf derartige Erfahrungen zurückgreifen kann, was dann?

In diesem Fall und auch dann, wenn man ein Produkt oder eine Leistung nicht ad hoc genau prüfen kann, dann kann es sinnvoll sein, die Prozessfairness zu überprüfen. Das heißt, wie fair ist der gesamte Prozess ausgestaltet, der zu dem Produkt oder der Leistung führt, die mir hier angeboten wird? Kauft man eine neue in Plastik eingeschweißte Wurstsorte aus Italien, dann kann man die Prozessfairness nicht überprüfen - man sollte nur eine kleine Menge zum Probieren kaufen oder es ganz sein lassen. An den Finanzmärkten ist es so, dass es Systeme gibt, wie die klassischen alten Börsen, die eine hohe Prozessfairness besitzen. Die toxischen Finanzprodukte, die das Unheil der Subprimekrise heraufbeschworen, wurden nun gerade nicht an den klassischen Börsen eingeführt. Bei den alten Börsen ist jedes Detail ihrer Strukturen auf absolute Fairness hin ausgerichtet. Das begründet ihren Erfolg. Wenn ein Produkt nicht über eine klassische Börse handelbar ist, darf man schon einmal misstrauisch werden.

Gibt es weitere Mittel und Wege, sich zu schützen?

Möglich, aber nicht immer anwendbar ist die so genannte Reziprozität. Man droht einem Partner, ihn reziprok zu schädigen, wenn er unfair handelt. Aber im Internet ist dieses Reziprozitätsprinzip oft nicht anwendbar, und folglich tummeln sich dort viele schwarze Schafe, die die Wehrlosigkeit ihrer Opfer ausnutzen.

Und was kann man tun, wenn man niemandem mehr trauen kann?

Wenn man zum Beispiel das Gefühl hat, jeder Handwerker legt es nur darauf an, Zeit zu schinden, dann muss man zum "do it yourself" greifen. Wenn das viele machen, heißt das: Die Arbeitsteilung bricht zusammen, und die Vorteile daraus verschwinden. Man erkennt, wie wichtig für eine wohlhabende Gesellschaft ein hochstehendes ethisches Wertesystem ist, an das sich jeder hält. Und dafür werbe ich in gewissem Maße auch in meinem Buch, in welchem übrigens das Wissen vieler Wissenschaftler eingeflossen ist.

Vielen Dank für das Gespräch.

Bibliographische Angaben: Thießen, Friedrich (2010): Opportunismus und Finanzmärkte. Ursachen und Konsequenzen, Wiesbaden: Gabler Verlag, 275 Seiten, ISBN 978-3-8349-2482-7, 39,95 Euro.

Mario Steinebach
04.12.2010

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