Den "gelebten Raum" erweitern
Theorie und Praxis der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit wurden auf wissenschaftlicher Tagung der Sächsisch-Tschechischen Hochschulinitiative unter die Lupe genommen
Mit dem Beitritt von Polen und Tschechien zur Europäischen Union im Jahr 2004 sowie zum so genannten "Schengen-Raum" 2007 wuchsen die Möglichkeiten für eine grenzüberschreitende Kooperation. Jeder kann, ohne an der Grenze kontrolliert zu werden, in das Nachbarland reisen. Zudem können viele Förderprogramme genutzt werden. Gleichzeitig haben die Regionen auf beiden Seiten der Grenze häufig mit Problemen wie Abwanderung und Überalterung zu kämpfen. Die Möglichkeiten, solchen Herausforderungen gemeinsam mit den europäischen Nachbarn zu begegnen, wurden vom 3. bis 5. März auf einer internationalen Konferenz im tschechischen Liberec/Reichenberg untersucht, die im dortigen Nordböhmischen Museum stattfand und von der Sächsisch-Tschechischen Hochschulinitiative (STHI) an der TU Chemnitz veranstaltet wurde.
Unter der Überschrift "Regionale Identität und transnationale Räume in Ostmitteleuropa" stellten 17 Experten aus Wissenschaft und Praxis ihre Konzepte und Erfahrungen vor. Das abwechslungsreiche Programm war von den Chemnitzer Wissenschaftlern Prof. Dr. Stefan Garsztecki (Professur für Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas) und PD Dr. Christoph Waack (Professur für Sozial- und Wirtschaftsgeographie) in Zusammenarbeit mit der STHI geplant worden. In vier Themenkreisen wollten sie u.a. feststellen, ob mit der vertieften Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg eine gemeinsame Identität der Beteiligten entstehen kann. Aufschlussreich war dabei vor allem die Vorstellung konkreter Projekte aus dem Grenzraum. Jeannette Gosteli, Leiterin der Geschäftsstelle Umgebindeland in Zittau, zeigte am Beispiel der Initiative zum Erhalt der in dieser Konzentration in Europa einzigartigen Umgebindebauweise, wie auch junge Leute für ein Leben in strukturschwachen Regionen begeistert werden können. Die im Rahmen solcher Initiativen entstehenden "persönlichen Beziehungen sind der Kern der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit", erläuterte sie. Auch Hedvika Zimmermannová, Leiterin der Geschäftsstelle des Städteverbunds "Kleines Dreieck" aus Zittau, Bogatynia und Hrádek nad Nisou im sächsisch-tschechisch-polnischen Dreiländereck, betonte deren Wichtigkeit. Weiterhin müsse man häufig "pragmatische Lösungen finden, um die Unterschiede in den gesetzlichen Regelungen ausgleichen zu können".
Einen weiteren instruktiven Höhepunkt für die 75 Konferenzteilnehmer, darunter viele Chemnitzer Studenten, bildete die Podiumsdiskussion zum Thema "Deutsch-polnische und deutsch-tschechische grenzüberschreitende Kooperation". An ihr waren mit Peter Heinrich (Regionaler Planungsverband Oberlausitz-Niederschlesien, Bautzen), Kateřina Lauermannová (Abteilung für Raumplanung und Bauordnung, Liberec), Markus Mildenberger (Staatskanzlei des Landes Brandenburg, Potsdam) und Maciej Zathey (Marschallamt der Woiwodschaft Niederschlesien, Wrocław) maßgebliche Akteure der Umsetzung dieser Kooperation in den entsprechenden Grenzräumen beteiligt. Einerseits konstatierten sie Verbesserungsbedarf. "Die Genehmigung von Fördermitteln ist meist langwierig und kompliziert. Dadurch werden viele Chancen vertan", führte Heinrich aus. Zathey ergänzte, dass "viele Programme noch nicht aufeinander abgestimmt sind". Andererseits jedoch konnten die bereits erzielten Errungenschaften hervorgehoben werden. "Wir haben ein sehr dichtes Beziehungsnetz geknüpft, das kaum mehr zu vertiefen ist", betonte Mildenberger mit Blick auf die Zusammenarbeit zwischen dem Land Brandenburg und verschiedenen polnischen Regionen. "Die offene Grenze ist mittlerweile im Bewusstsein der Menschen angekommen", meinte auch Lauermannová. Und so konnte resümierend festgestellt werden, dass die Entwicklung einer "transregionalen Identität" in den Grenzgebieten für die nähere Zukunft wohl nicht zu erwarten ist. Gleichzeitig wird der von Bewohnern dieser Gebiete genutzte und wie selbstverständlich empfundene "gelebte Raum" - so ein Begriff des in Ústí nad Labem und Prag lehrenden tschechischen Soziologen Prof. Dr. František Zich - immer größer. Und wenn man die relativ kurze Zeitspanne bedenkt, in der diese Entwicklung nach 1989/90 bzw. 2004/07 stattfand, sind für die Zukunft weitere Fortschritte zu erwarten.
Die Liberecer Tagung war die dritte in einer Reihe ähnlicher Veranstaltungen, die von der STHI in den Jahren 2010 und 2011 organisiert und durchgeführt wurden. Die aus Mitteln des EU-Programms "Ziel 3/Cíl 3" geförderte Initiative hat es sich zum Ziel gesetzt, die Kooperation der Hochschulen im sächsisch-tschechischen Grenzraum zu intensivieren. Neben der TU Chemnitz sind die J. E. Purkyně-Universität Ústí nad Labem/Aussig und die Westböhmische Universität Plzeň/Pilsen am Projekt beteiligt. Die nächste Konferenz findet unter der Leitung von Prof. Dr. Beate Neuss (Professur für Internationale Politik) und Prof. Dr. Matthias Niedobitek (Professur für Europäische Integration mit dem Schwerpunkt Europäische Verwaltung) bereits vom 25. bis 27. März 2011 in Oberwiesenthal statt. Sie widmet sich dem Thema "Kooperationsbeziehungen in der neuen Union unter besonderer Berücksichtigung des sächsisch-tschechischen Grenzraums". Anmeldungen dazu sind bereits möglich.
Weitere Informationen sind unter http://www.sthi.eu sowie bei Ilona Scherm, Telefon 0371 531-34503, ilona.scherm@phil.tu-chemnitz.de erhältlich.
(Autor: Martin Munke)
Mario Steinebach
08.03.2011