Begreifbar: Wie Hände sprechen, steuern und schuften
Sonderausstellung „Gesten – gestern, heute, übermorgen“ im Industriemuseum Chemnitz vereint vom 17. November 2017 bis 4. März 2018 Kunst, Wissenschaft und technologische Anwendung
„Wir befinden uns an einer Epochenschwelle, die nicht nur die Welt der Arbeit, wie wir sie bisher kennen, fundamental verändern wird, sondern die zugleich einen Umschlagpunkt der technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung markiert, an dem sich unsere konkreten Beziehungen zu Objekten grundsätzlich wandeln“, führt Prof. Dr. Ellen Fricke aus, Inhaberin der Professur Germanistische Sprachwissenschaft, Semiotik und Multimodale Kommunikation an der Technischen Universität Chemnitz. Die Rolle der Hand sei dabei von besonderer Bedeutung, denn sie stelle einen zentralen Kristallisationspunkt der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen materiellen Kultur dar.
Gesten als Wissensspeicher
Wir verwenden täglich Gesten, um einander etwas mitzuteilen. Wir sprechen also nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Händen. So geben wir z. B. mit dem Daumen nach oben unser Okay. Mit Hilfe unsere Hände können wir aber auch räumliche Verhältnisse abbilden, Gegenstände visualisieren oder Handlungen nachahmen. „Gesten sind ein wichtiger visuell-kultureller Wissensspeicher des Objektgebrauchs“, erklärt Fricke. So seien beispielsweise in der Geste des Telefonierens, bei der die Hand als Ganzes mit abgespreiztem kleinen Finger und Daumen ein Handy verkörpert, noch Formaspekte des alten gebogenen Telefonhörers auffindbar. In einer zunehmend technisierten Welt steuern wir heute mit Gesten bereits Roboter, Autos, Fernseher und Smartphones. Da drängt sich die Frage auf, wie Gesten überhaupt entstehen. Was teilen sie uns über unsere Sprache, Kultur und Technik mit? Und wie beeinflussen sie künftige Entwicklungen? Im industriellen Bereich wird Gestensteuerung als Zukunftsthema gehandelt und beispielsweise für die Steuerung von Haushaltsgeräten („Smart home“) oder in der Autoindustrie erprobt.
Sprache der Gesten und die veränderte Arbeitswelt
In der Sonderausstellung „Gesten – gestern, heute, übermorgen“ wird es vom 17. November 2017 bis 4. März 2018 im Industriemuseum Chemnitz nicht nur um die faszinierende „Sprache der Gesten“ gehen, sondern auch um die Arbeitswelt der Zukunft. Auf 600 Quadratmetern werden Gesten und ihre vielfältigen Bezugspunkte zu aktuellen kulturellen und technischen Entwicklungen und Wandlungsprozessen für Jung und Alt erfahr- und erlebbar. Dabei treffen interaktive Installationen, die vom Linzer Ars Electronica Futurelab in enger Zusammenarbeit mit der TU Chemnitz eigens für diese Ausstellung entwickelt wurden, auf geschichtsträchtige Exponate des Industriemuseums und auf Kunstwerke, die sich mit Gesten allgemein als menschlich hervorgebrachten Zeichen auseinandersetzen. Die Besucherinnen und Besucher können selbst erkunden und ausprobieren: Wie hängen Gestik und Sprechen zusammen? Was unterscheidet eine Roboterhand von einer menschlichen Hand? Wie kann die Geste der flachen Hand zu einem Flugzeug werden, mit dem man einen virtuellen Globus steuern kann? Oder: Wie blättert man in einem Gestenlexikon? – und vieles mehr.
Ausgewählte Werkzeuge und Maschinen des Industriemuseums lassen zudem erkennen, wie sich Herstellungsprozesse und damit auch Handhabungen und Arbeitsgesten im Laufe der Jahrhunderte veränderten. Wer beispielsweise etwas über das Hämmern vom Faustkeil bis zum Federhammer erfahren will oder ausprobieren möchte, wie man mit einer realen Töpferscheibe auch virtuell töpfern kann, kommt voll auf seine Kosten. Aber nicht nur Maschinen gehören ins Museum, sondern auch die Artefakte, welche die entsprechenden Handhabungen von Menschen dokumentieren. Ein Videodokumentationsprojekt der TU Chemnitz zum Töpfern, Spinnen und Hämmern zeigt ausgewählte Exponate des Industriemuseums im Kontext ihres Gebrauchs. „Dieses historische Handhabungswissen droht im aktuellen technologischen Wandel als kulturelles Erbe zunehmend verloren zu gehen“, schätzt Dr. Oliver Brehm, Direktor des Industriemuseums Chemnitz, ein und führt weiter aus: „Eine unserer Expertisen besteht gerade darin, das Wissen über die Instandsetzung historischer Werkzeuge und Maschinen mit dem Wissen über ihre Funktionsweise und Handhabung zusammenführen zu können.“
Ungewohnte Aktionsangebote für Museumsgäste
„Das Gesamtprojekt zeichnet sich dadurch aus, dass experimentelle und künstlerische Herangehensweisen in der Forschung Platz finden. Dieser Ansatz zieht sich auch in die Ausstellung hinein und bietet den Besucherinnen und Besuchern einen ungewohnten Perspektivwechsel zwischen analog und digital, der Hände, Gesten und ihre Beziehungen zu den Dingen in einem neuen Licht erscheinen lässt“, erklärt Christopher Lindinger vom Ars Electronica Futurelab im österreichischen Linz, das die Ausstellung als Forschungspartner der Professur Germanistische Sprachwissenschaft konzipierte. Einige zentrale interaktive Exponate, die in enger Zusammenarbeit mit dem Ars Electronica Futurelab entstanden sind, vermitteln einen Eindruck von kontaktloser Gestensteuerung und lassen das Zusammenspiel von Stimme und Geste Schritt für Schritt begreifbar werden.
Vom Ars Electronica Futurelab wurden darüber hinaus international renommierte Künstler eingeladen, Positionen zur Ausstellung beizusteuern. Der interaktive „Wooden Mirror“ des New Yorker Künstlers Daniel Rozin beispielsweise lässt ein nicht-reflektierendes Material zu einem Spiegel werden. Dabei werden Hand- und Körperbewegungen des Betrachters von Kameras erfasst und 830 ansteuerbare Holzplättchen erzeugen daraus eine „Spiegelung“. Die Videoinstallation „Captured Motion“ aus der Enzyklopädie der Handhabungen der Berliner Künstlerin Anette Rose lotet das ästhetische Potential des Motion Capturing als Aufzeichnungstechnik redebegleitender Gesten aus und zeigt in einem begehbaren Kubus, wie Wörter und Gesten bei Objektbeschreibungen zusammenwirken. Jennifer Crupis „Gesture Jewelry“ macht bestimmte Körper-, Arm- und Handhaltungen als statische Posen bewusst. Die handgefertigten Einzelstücke können in der Ausstellung selbst ausprobiert werden. In der „Augmented Hand Series“ Golan Levins wird sogar die Hand des Besuchers selbst transformiert und man kann in Echtzeit erleben, wie es ist, wirklich zwei linke Daumen zu haben. Weitere Exponate sind u. a. Gestenskulpturen, die Bewegungsspuren verkörpern, und ein Demonstrator zum Thema Industrie 4.0, an denen die Besucher ebenso selbst aktiv werden können.
Ein umfangreiches Angebot für Schulklassen mit Führungen und Workshops ergänzt die Ausstellung. Von der Herstellung kleiner Handpuppen über die Fertigung pneumatischer Greifarme bis zur Produktion von Stummfilmen reicht das Programm. Zudem können sich Schüler der Klassen 5 bis 10 bereits im Vorfeld bis zum 15. September am Fotowettbewerb „Talking Hands“ mit einem Foto ihrer Lieblingsgeste beteiligen.
Gefördert wird die Ausstellung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, durch die Ostdeutsche Sparkassenstiftung, die Sparkasse Chemnitz, durch die Kulturstiftung des Freistaats Sachsen sowie durch den Freistaat selbst.
Homepage der Ausstellung: http://www.gesten-im-museum.de
Öffnungszeiten des Industriemuseums Chemnitz: Dienstag bis Freitag: 9 bis 17 Uhr / Samstag, Sonntag, Feiertag: 10 bis 17 Uhr / Sonderöffnungszeiten zum Jahreswechsel.
Weitere Informationen zur Ausstellung erteilen Dr. Oliver Brehm, E-Mail dr-brehm@saechsisches-industriemuseum.de, Telefon 0371 3676-140. / Prof. Dr. Ellen Fricke, E-Mail sekretariat.efricke@phil.tu-chemnitz.de, Telefon 0371 531-27220 (Sekretariat) / Christopher Lindinger und Marianne Eisl, E-Mail Christopher.Lindinger@aec.at, Marianne.Eisl@aec.at, Telefon +43 732 727280.
Stichwort: Gesten und ihr wissenschaftliches Potenzial
Gesten bilden seit jeher einen Teil der menschlichen Kommunikation – manche Forscherinnen und Forscher halten sie für älter als die Lautsprache selbst. Dennoch wird Gestik erst seit einigen Jahrzehnten intensiv erforscht. An der Professur Germanistische Sprachwissenschaft, Semiotik und Multimodale Kommunikation (Prof. Dr. Ellen Fricke) der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz liegt einer der Schwerpunkte auf dem Zusammenwirken von Gesten und Lautsprache in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Ein wesentliches Ziel besteht in einer multimodalen Sprachbeschreibung, die beide Bereiche miteinander verbindet.
Die Sonderausstellung „Gesten – gestern, heute, übermorgen“ bildet den Abschluss des Forschungsprojekts „Hands and Objects in Language, Culture, and Technology: Manual Actions at Workplaces between Robotics, Gesture, and Product Design“ (MANUACT), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 1,2 Millionen Euro über den Zeitraum von drei Jahren gefördert wird. Der Blick dieses Verbundprojekts richtet sich auf das Zusammenspiel von Traditionen des Objektgebrauchs, deren Verkörperung in Gesten und der Gestaltung von händischen Bedienkonzepten an der Schnittstelle von Menschen und Maschinen. Ein zentraler Grundgedanke ist dabei, dass für die Gestaltung zukünftiger 3D-Interfaces mit Gestensteuerung die kommunikativen Gesten der zwischenmenschlichen Kommunikation einen geeigneten Ausgangspunkt darstellen, da sie bereits im Gedächtnis verankert und daher leichter zu erlernen sind. Zentrale Ergebnisse sind die Konzeption eines digitalen Lexikonprototyps von Objektgebrauchsgesten in der Alltagskommunikation, das zugleich ein kulturelles Objektgedächtnis darstellt, und ein arbeitswissenschaftliches Manual zur Gestensteuerung bei Mensch-Maschine-Schnittstellen.
In diesem Projekt kooperieren die Professuren Germanistische Sprachwissenschaft, Semiotik und Multimodale Kommunikation (Prof. Dr. Ellen Fricke) und Arbeitswissenschaft und Innovationsmanagement (Prof. Dr. Angelika Bullinger-Hoffmann) der Technischen Universität Chemnitz mit dem Industriemuseum Chemnitz. Weiterer Projektpartner ist das Ars Electronica Futurelab in Linz.
Weitere Informationen: http://www.manuact.org
Ein TV-Beitrag von CHEMNITZ FERNSEHEN findet sich hier.
Mario Steinebach
30.08.2017