Krise(n) und soziale Bewegungen in Barcelona im 21. Jahrhundert
Exkursionsbericht: Studierende der Europa-Studien machten eine Bildungserfahrung, die in besonderem Maße eine Sensibilisierung für Machtverhältnisse und Formen ihrer Bekämpfung bot
Vom 6. bis 13. September 2018 trafen Studierende der Technischen Universität Chemnitz Aktivistinnen und Aktivisten sowie Repräsentantinnen und Repräsentanten verschiedener Initiativen und Organisationen Barcelonas, die über aktuelle soziale Kämpfe in den Bereichen Erinnerungspolitik, Unabhängigkeitsbestrebungen, Wirtschaftskrise, Feminismus und Migration in Spanien und insbesondere in Katalonien berichteten. Die Exkursion wurde von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen der Professur kultureller und sozialer Wandel, Dr. Silke Hünecke und Ana Troncoso, konzipiert und geleitet. An ihr nahmen zwölf Studierende der Europa-Studien teil. Als Vorbereitung wurde im Sommersemester 2018 ein Blockseminar zu Methoden zur Erforschung von sozialen Bewegungen angeboten, in dem verschiedene Ansätze der qualitativen Forschung vermittelt wurden. Zudem wurden die jeweiligen Themen und Treffen von im Vorfeld gebildeten AGs vorbereitet und am Vorabend in Barcelona den Kommilitoninnen und Kommilitonen einführend für den nächsten Tag referiert. Die einzelnen AGs waren auch dafür verantwortlich, den jeweiligen Tag zu dokumentieren, um diesen im Anschluss der Exkursion in einem Onlineblog zu präsentieren.
Der erste Tag war dem Thema Katalonien gewidmet. Wir haben das Museu d’Història de Catalunya besucht und an einer Führung mit dem Schwerpunkt Katalonien im 20. Jahrhundert teilgenommen. Anschließend sind die Studierenden eigenständig durch das Museum gegangen, um sich Gedanken zur Repräsentationsform zu machen. Am Nachmittag fanden zwei Treffen mit Akteuren zu Katalonien und den Unabhängigkeitsbestrebungen statt. Zum einen mit Quim Arrufat, ehemaliger Parlamentsabgeordneter, Stadtrat und aktuell im Führungsgremium der linken Partei CUP sowie zum anderen mit Joan Vallvé, Vizepräsident von Òmnium Cultural, einer der wichtigsten Institutionen zur Förderung der katalanischen Kultur und Sprache sowie zunehmend auch politische Akteurin im Kampf um die Unabhängigkeit. So wurde den aktuellen Debatten ein geschichtlicher Rahmen gegeben. Die verschiedenen Referenten vermittelten uns zudem unterschiedliche Perspektiven auf die Ziele und Spannungen bei den Unabhängigkeitsbestrebungen.
Am zweiten Tag fand ein Treffen mit Ivan Miró, Mitglied der selbstverwalteten Kooperative La ciutat Invisible statt. Ivan Miró bot uns einen Stadtrundgang aus der Perspektive der sozialen Bewegungen, insbesondere der Bewegung 15-M an. Der Rundgang begann auf der Plaza Cataluña, wo er uns über die Bedeutung des Platzes für die Entstehung der Bewegung 15-M im Jahr 2011 gegen die Wirtschaftskrise und die Sparpolitik der spanischen Regierung und Europas erzählte. Das Zusammenkommen von Tausenden von Menschen auf dem Platz ermutigte viele von den restriktiven Maßnahmen betroffene Menschen. Auf dem Platz seien auch viele politische Gruppen entstanden und Projekte entwickelt worden, die gemeinsam Resignation und Hoffnungslosigkeit in eine soziale Bewegung umwandelten. Der Rundgang setzte sich im Viertel Sants fort. Dort wurden die alternative, wissenskritische Buchhandlung und das Forschungsbüro der Kooperative La ciutat Invisible sowie das selbstverwaltete Nachbarschaftszentrum Can Batlló besichtigt. Das aus alten Fabrikhallen bestehende Can Batlló wurde in ein Kulturzentrum mit Bildungs- und Werkstätten, Gärten und Konzerthallen umgewandelt. Am Tag unseres Besuchs fand dort ein Nachbarschaftsfest statt. Durch teilnehmende Beobachtung konnten die Studierenden die soziale Bedeutung dieser Aneignung hautnah miterleben. Am frühen Abend und in einer der Räumlichkeiten vom Can Batlló fand das Treffen mit Joana García, Aktivistin der Xarxa Feminista de Cataluña, statt. Sie gab uns Einblicke in die aktuellen Kämpfe der feministischen Arbeit in Spanien. Unter anderem sprachen wir mit ihr über den Beitrag von migrantischen Feministinnen in der Bewegung Spaniens und über die Wichtigkeit einer intersektionellen Perspektive bei den Kampfzielen; auch über Erfolge wie den Generalstreik am 8. März 2018, an dem fünf Millionen Frauen in Spanien teilnahmen, sowie über Herausforderungen, vor denen der heutige Feminismus in Europa steht.
Am dritten Tag haben wir einen Ausflug nach Manresa und Sabadell, zwei kleinere Städte in der Provinz von Barcelona, unternommen und uns dort mit Repräsentantinnen und Repräsentanten der PAHC (Plataforma de Afectados por la Hipoteca y el Capitalismo) getroffen. Diese spanienweit existierende Plattform ist im Rahmen und zur Bekämpfung der Zwangsräumungen inmitten der Immobilienkrise entstanden. In Manresa wurden wir von zwei Aktivist_innen, Bernat Sorinas und Nuria Miralles, vom Bahnhof abgeholt und durch die Innenstadt geführt. Während wir gemeinsam die Straßen entlanggingen, haben sie uns die Geschichte der Bewegung sowie ihre Erfolge mitgeteilt. Sie zeigten uns die Häuser, die den Banken gehörten, leer standen und von der Bewegung besetzt wurden, um sie den Menschen, die sie brauchten, zur Verfügung zu stellen. Es war zunächst vor allem die spanische Arbeiter- und Mittelschicht, die plötzlich obdachlos wurde und dann den leerstehenden Wohnraum besetzte, erst in den letzten Jahren sind Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchtete dazugekommen. Sie erzählten uns über ihre durchdachte interne Organisation und die Erweiterung ihrer Arbeit auf andere Bereiche: die Gründung einer Frauenschule, wo Lesen und Schreiben beigebracht wird, die aber auch als Empowerment-Raum für Frauen mit migrantischem und ohne migrantischen Hintergrund genutzt wird, sowie eine Schule für migrantische Kinder, die dort Nachhilfe bekommen. Das Gespräch und die Beantwortung der Fragen aus der Gruppe wurden auf dem Dach von einem der besetzten Häuser, wohin auch zwei Bewohnerinnen des Hauses gekommen sind, weitergeführt. Anschließend wurde die Gruppe zu Tee mit Honig und süßen persischen Spezialitäten in die Wohnung einer der Familien eingeladen. Das Gespräch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern in ihrem Privatraum hat dem Austausch eine besondere Qualität gegeben und der Gruppe gezeigt, was Organisation, Solidarität und eigene Aktion möglich machen. In Sabadell wurden wir von Essa empfangen, der nach Spanien immigriert und Bewohner des ersten Hauses ist, das Mietverträge bis zu fünf Jahre besitzt. Dass eines der besetzten Häuser den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern jetzt Mietverträge anbieten kann, ist ein Erfolg und Resultat eines über Jahre erkämpften Abkommens zwischen der Firma, die Eigentümerin des Hauses ist, der lokalen Regierung und der PAHC. Einer der wichtigsten Ansätze der PAHC ist Hilfe zur Selbsthilfe. Aus „bedürftigen Menschen“ werden Aktivistinnen und Aktivisten, die gemeinsam mit anderen sich Ziele setzen und Strategien entwickeln, um sich selbst ein anderes, selbstbestimmteres Leben zu erkämpfen.
Der vierte Tag war dem Thema Erinnerungspolitik gewidmet. Vormittags empfingen uns in der Institution Memorial Democràtic Manuel Perona, Nuria Gallach und Pere Puig von der Associació per a la recuperació de la memòria històrica de Catalunya (ARMHC), die für uns einen Vortrag hielten zu der Arbeit der Gruppe und ihrem langen Kampf gegen das Schweigen des spanischen Staates in der Zeit der Transición zur Demokratie und auch danach sowie über die Verbrechen unter der Franco-Diktatur. Insbesondere wurde den Studierenden ihre schwierige und sehr belastende Arbeit nahegebracht, bei der sie Massengräber aufdeckten, worin sie auch ihre Verwandten wiederfinden mussten. Durch die Mitarbeit des Biologen und Wissenschaftlers der Universität Barcelonas, Pere Puig, sind präzise Verfahren zur Identifizierung von Leichen und deren Zuordnung zu den Familien, die ihre verschwundenen Verwandten suchen, entwickelt worden. Symptomatisch für die Hemmnisse bei der Aufarbeitung der Vergangenheit in Spanien sei es, dass aus Angst vor sozialen und womöglich auch politischen Konsequenzen viele Menschen sich immer noch nicht trauen, die Verschwundenen aus ihren Familien bekannt zu geben.
Am Nachmittag haben wir mit dem 84-jährigen Pere Fortuny, Mitbegründer der Associació Pro-Memoria, den Gedenkort Fossar de la Pedrera besucht. Für die Schaffung dieses Gedenkortes wurde jahrzehntelang gekämpft, unter anderem auch von ihm, Sohn eines Republikaners und Bürgermeisters, den die Faschisten ermordet und an diesem Ort verscharrt haben. Als Zeitzeuge erzählte er uns seine Familiengeschichte unter der fast vierzig Jahre andauernden franquistischen Repression. Unser Gesprächspartner wurde von seinem Urenkel begleitet und beim Gehen am Arm gestützt. Seine Geschichte, aber auch seine Kraft, seine Würde und sein Glauben an das Leben waren bewegend, inspirierend und eine Lehre für die Zuhörenden.
Am fünften Tag, dem 11. September, fand die DIADA, der wichtigste Feiertag in Katalonien, statt. An dem Tag wird an die Kapitulation von 1741 erinnert, an dem Katalonien endgültig seine Unabhängigkeit an die spanische Krone verlor. Seit 2010 finden an diesem Tag jedes Jahr große Demonstrationen für die Unabhängigkeit statt. Aufgrund des angespannten Verhältnisses zwischen Katalonien und der zentralen Regierung war die Demonstration auch ein wichtiges Signal, die Unabhängigkeitsbewegung in ihrer Stärke sichtbar zu machen. Schätzungen sprachen von einer Million Menschen, die an diesem Tag auf der Straße waren und an der Demonstration teilgenommen haben. Die Studierenden waren dort mit der Aufgabe betraut, aktiv die Demonstration zu ethnographieren: Sie haben Bilder-, Audio- und Videoaufnahmen gemacht sowie einige Interviews mit Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmern geführt.
Der letzte Tag war dem Thema Migration gewidmet. Vormittags wurden wir im Museu de la història de la Immigració de Catalunya des Vorortes Sant Adrià de Besòs empfangen. Das Museum arbeitet mit dem Ansatz, die aktuellen Migrationsbewegungen in einen genealogischen Zusammenhang zu stellen und Katalonien als eine Gesellschaft mit historischer Migrationsgeschichte zu präsentieren. Neben einer Führung durch das Museum, bei der die Geschichte der Migration in Katalonien sowie der Ansatz des Museums erklärt wurden, fand ein Workshop der Leiterin, Imma Boj, statt. Dafür wurden die Studierenden im Vorfeld gebeten, jeweils ein Objekt mitzubringen, mit dem sie/er eine Migrationsgeschichte verbindet. Alle sind der Bitte nachgekommen und haben nacheinander „ihre eigene“ Migrationsgeschichte bzw. die von Familienangehörigen der Gruppe mitgeteilt. So wurde deutlich, was der Ansatz des Museums ist: Migration gehört zu den Menschen. Es ist nicht die Migration, sondern die Grenzregime Spaniens und Europas sind das Neue und das Problematische. Für die Gruppe wurde zudem aus einer Museumsbesichtigung eine intime Situation. Vor dem Hintergrund der gerade im September stattgefundenen Ereignisse in Chemnitz war dies auch eine Gelegenheit, einiges an Unmut auszusprechen.
Am Nachmittag haben wir eine von Migrantinnen und Migranten selbstorganisierte und als Gewerkschaft gemeldete Gruppe von Straßenverkäuferinnen und -verkäufern, die Manteros, getroffen. Das Treffen fand in Top Manta statt, einem Laden, den sie eröffnet haben und in dem sie eine eigene Bekleidungsmarke produzieren. Das Gespräch mit unseren Gesprächspartnern und mit dem Repräsentanten der Bewegung, Lamine, wurde auch von weiteren Geflüchteten mitgestaltet. Studierende konnten Fragen stellen zu der Flucht, zu der Überfahrt mit den Booten über das Meer sowie zu den Gefahren, auf der Straße zu verkaufen und von der Polizei aufgegriffen und abgeschoben werden zu können. Wir bekamen Antworten und den Zusammenhang von diesen Umständen mit postkolonialen Verhältnissen und Rassismus erklärt. Zudem haben wir einen unvermittelten Einblick darin gewonnen, wer hinter dem „Mantel“ der Geflüchteten steht: Handwerker, Ärzte, ausgebildete, organisierte und starke Menschen, die ihre Lebensumstände ändern und verbessern, indem sie sich zusammentun und die Probleme Europas anprangern.
Die Exkursion war die Erfahrung, eine Stadt aus der Perspektive ihren Bewohnerinnen und Bewohner sowie Aktivistinnen und Aktivisten kennenzulernen. Sie wurde von allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern als tiefgehend, überraschend und bereichernd empfunden. Diese Schlussfolgerung basierte auf der Diversität der Themen, der Bandbreite an Organisationen von selbstorganisierten Initiativen über staatliche Museen bis hin zu Gewerkschaften von Menschen mit unsicherem Status sowie auf den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, die mit ihrer Einzigartigkeit die Themen mit Geist und Menschlichkeit gefüllt haben. Neben der Ernsthaftigkeit aller und der Traurigkeit einiger Themen gab es warme Begegnungen sowie schöne und lustige Momente. Diese Verflechtung verschiedener Gefühle und Realitäten zeichnete unsere Exkursion bis zum Schluss aus, wie der Abflug-Anekdote zu entnehmen ist:
"Es war der Tag der Abreise und wir hatten die Zugtickets bereits bei der Ankunft gekauft. Als wir den Zug zum Flughafen nehmen wollten, wurde uns von dem Bahnpersonal erklärt, dass unsere Tickets nur 24 Stunden gültig und somit für die Fahrt nicht mehr nutzbar seien. Aber das war nicht das einzige Problem. Vor einigen Stunden war ein Mensch vor den Zug gesprungen.
In der „besonderen“ Situation sind Entscheidungen nicht leichter und dennoch zu treffen. Das Bahnpersonal war nett und ließ uns mit den abgelaufenen Tickets zu dem Gleis gehen. Als schon zehn Minuten vergangen waren und obwohl die Anzeige weiterhin die baldige Ankunft unseres Zuges ankündigte, entschieden wir, mit dem Bus zum Flughafen zu fahren. Aber als etwa die Hälfte der Gruppe durch die Kontrolle war, rief eine Studentin von hinten, dass der Zug doch einfahren würde. Wir mussten sehr schnell agieren. Eine Hälfte der Gruppe, ich miteingeschlossen, hatte erneut kein gültiges Ticket. In dem Moment ging ein Mensch durch die Kontrolle und bevor die Türen zugingen, stellte ich mich dazwischen. Dabei habe ich aus dem Augenwinkel gesehen, wie das Sicherheitspersonal unseren in der „besonderen“ Situation angegangen illegalen Akt mitbekam und sich auf den Weg zu uns machte. Wir waren schneller und als wir unten waren, fing der Zug an zu rollen. In der „besonderen“ Situation stoppte der Zug, die Türen gingen wieder auf und wir sind eingestiegen. Und in der halben Stunde Fahrt zum Flughafen haben wir uns die kurze Geschichte viele Male gegenseitig erzählt, immer mit einem anderen Schwerpunkt, und dabei viel gelacht."
Die Anekdote bekam für mich einen metaphorischen Charakter bezüglich der Exkursion. Die Verhältnisse, in denen wir leben, lassen zur selben Zeit solche Unterschiede zu: Während ein Mensch keinen anderen Weg als den Tod findet, will eine Gruppe von Menschen ihren gebuchten Flug nicht verpassen. Die Exkursion war eine Bildungserfahrung, die in besonderem Maße eine Sensibilisierung für Machtverhältnisse und Formen ihrer Bekämpfung bot. Somit brachten unsere Koffer Argumente und Beispiele zurück nach Hause, um dem Sozialen, sei es in Katalonien oder in Chemnitz, analytisch und konkret wachsamer begegnen zu können.
(Autorin: Ana Troncoso)
Hinweis: Die Namen von Menschen ohne sicheren Status werden zu ihrem Schutz im Exkursionsbericht nicht vollständig wiedergegeben.
Mario Steinebach
30.10.2018