Die Zukunft liegt im hybriden Leichtbau
Wissenschaftliches Kolloquium im Bundesexzellenzcluster MERGE erörtert Herstellung von funktionsintegrierten Halbzeugen durch Technologiefusion
In einem wissenschaftlichen Kolloquium zum Handlungsfeld „Halbzeuge und Preform-Technologien“ (Interacting Research Domain A, kurz: IRD A) des Bundesexzellenclusters MERGE an der Technischen Universität Chemnitz zogen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am 30. Oktober 2018 Bilanz zu knapp sechs Jahren Forschungsarbeit. In dieser Zeit gab es einige wissenschaftliche „Glanzlichter“, auf die Prof. Dr. Daisy Nestler, Leiterin des Forschungsbereichs, verwies, darunter zehn Meilensteintreffen, 63 wissenschaftliche Publikationen, vier Patente und 143 aktive Teilnahmen an nationalen sowie internationalen Konferenzen und Tagungen, auf denen die insgesamt 53 mitwirkenden Forscherinnen und Forscher sechs Preise für den Cluster MERGE erringen konnten.
Nestler betonte in ihrem Eingangsvortrag vor allem die im Projekt erlangte Expertise: „Wir wissen genau, welcher Werkstoff an welcher Stelle der richtige ist“, fasste sie vor den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Wissenschaft und Wirtschaft zusammen. Ihr Handlungsfeld beschäftigt sich u. a. in einem umfangreichen Teilprojekt mit der Herstellung sogenannter hybrider Laminate, also der Zusammenführung von faserverstärkten Kunststoffschichten und Feinblechen aus Metalllegierungen im alternierenden Aufbau für belastungsgerechte und gewichtsoptimierte Schichtverbunde. Dabei werden zur Faserverstärkung Basalt-, Aramid-, Glas- oder Naturfasern verwendet. Anforderungsspezifisch können für die hybriden Leichtbauhalbzeuge Aluminium-, Magnesium- oder Titanlegierungen genutzt werden. Den Forschenden ist es zudem gelungen, gleichzeitig im Fertigungsprozess Sensoren zu integrieren, die in der Anwendung beispielsweise der Bauteilüberwachung dienen, um Nutzer auf Schäden aufmerksam zu machen, bevor es zum Bauteilversagen kommt. Zur Veranstaltung lieferten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Handlungsfeldes in zahlreichen Vorträgen einen Einblick in die wichtigsten Erkenntnisse des MERGE-IRDs. Sie diskutierten herausragende Schwerpunkte, die in zukünftigen Projekten weiter fortgeführt werden sollen.
Auf dem Weg zur industriellen Anwendung
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des MERGE-Clusters wollten im Rahmen ihrer Forschungen das Potential in Richtung thermoplastisch basierter Werkstoffverbunde, die effizient in der Herstellung, umformbar und recycelfähig sind, insbesondere für den Automobilsektor aufzeigen. Dort kann der Leichtbau in Großserie maßgeblich zur CO2-Reduktion beitragen. „Nun gilt es, Fahrzeughersteller mit den innovativen Materialanwendungen verbunden mit großserienfähigen Technologien vertraut zu machen und gleichzeitig deren Kriterien in Sachen Bauraum und Kosten zu beachten. Für eine effiziente Gewichtsverringerung führt dabei kein Weg an hybriden Werkstoffsystemen vorbei. Auch die Grundlagenforschung ist bereits so weit fortgeschritten, dass einer industriellen Anwendung nichts mehr im Wege steht“, erklärte Nestler. Je nach Anforderungen und Einsatzgebiet können die Werkstoffkonzepte von den Forschenden genau berechnet und ausgelegt werden, sodass die hybriden Laminate als maßgebende Komponenten in Bauteile eingefügt werden können. Diese hohe Qualität und Vielfalt der Forschungsbandbreite sei in Deutschland einmalig und damit Alleinstellung des Clusters MERGE, betonte die Forschungsbereichsleiterin. Doch auf dem Weg zur industriellen Anwendung muss das neue Material zunächst „in die Köpfe gebracht werden“.
Daisy Nestler ist sich sicher: „Solange sich die noch immer hohen Ressourcenpreise der einzelnen Materialien nicht ändern, muss über neuartige Technologiekombinationen bei der Fertigung der Halbzeuge an der Preisschraube gedreht werden.“ In IRD A betrachten sie und ihr Team daher vor allem den Herstellungsprozess genauer. In Kooperation mit der Cetex gGmbH, einem An-Institut der TU Chemnitz, entwickelten die Forscherinnen und Forscher eine bestehende Faser-Folien-Bandanlage für die Fertigung hybrider Laminate weiter. Die großserientaugliche Pilotanlage der Cetex spreizt die Einzelfilamente der verwendeten Faserbündel, sogenannter Rovings, flächig auf und bettet sie in thermoplastische Folien ein. Auf einer Breite von 600 Millimetern fertigt der Herstellungskomplex so ein bis drei Meter des Materials pro Sekunde auf nahezu unbegrenzte Länge. Der Faseranteil kann bis zu 60 Prozent des Kunststoffverbundes betragen. Neben den metallischen Lagen können anschließend ebenso Kunststofffolien mit gedruckten Sensoren thermisch verpresst werden. Aufgrund ihrer geringen Größe befinden sich diese dann artefaktfrei und intrinsisch im Halbzeug, ohne die Struktur per se kritisch zu beeinflussen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Handlungsfeldes entwickelten dazu neuartige Feuchtigkeits-, Dehnungs-, und Ermüdungssensoren. Letztere Sensoren tragen dazu bei, Risse im Bauteil, die durch Spannungen entstehen, jedoch von außen nicht zu sehen sind, detektierbar zu machen. „Um in heterogenen Strukturen Schädigungen zu erkennen, müssen wir in die Struktur hineingehen. Damit schaffen wir u. a. einen Mehrwert an Sicherheit für Anwender“, so Nestler. Das fertige Halbzeug kann danach als Plattenmaterial weiterverarbeitet oder etwa durch Tiefziehen umgeformt werden. Für diesen letzten Fertigungsschritt des „Rolle-zu-Rolle“-Verfahrens legten die MERGE-Wissenschaftler bereits ein Entwicklungskonzept vor, das perspektivisch als Anlage umsetzbar ist. Sie zeigten anhand mehrerer Demonstratoren, wie einem Pkw-Querträger, einem Querlenker und Fahrwerks-Koppelstreben, dass die Herstellung der Materialkombinationen und auch die nachfolgende Bearbeitung delaminationsfrei erfolgen, die einzelnen Materialschichten sich also nicht voneinander lösen. Der Prozess wartet nun auf seinen industriellen Einsatz.
Die Anwendungsvielfalt der hybriden Laminate ist groß, denn sie sind im Vergleich zu Stahl etwa 40 Prozent leichter bei gleichzeitig besseren Eigenschaften als das herkömmliche Material sie aufweist. Festigkeit und Steifigkeit sind höher, die Sicherheit der Bauteile aus hybriden Laminaten ist besser als die von Stahlbauteilen. Daisy Nestler erklärt das so: „Die Schadenstoleranz ist aufgrund des Fasereinsatzes besser. Kommt es zum Unfall eines Fahrzeugs in Metallbauweise, so verformen sich die betreffenden Bauteile plastisch bis hin zum Versagen des Metalls. In Bauteilen mit hybriden Laminaten kommt es bei einem Crash in den faserverstärkten Lagen jedoch nach Rissinitiierung zur Rissablenkung, schließlich auch zum Rissstopp durch Energiedissipation, das heißt die Risse laufen sich an den Fasern förmlich ‚tot‘ und werden gestoppt. Ein sogenanntes katastrophales Versagen wird verhindert.“ Daneben gewinnen Aspekte wie Flexibilisierung und Individualisierung der Produkte durch Modularität in der Massenproduktion an enormer Bedeutung für Zulieferer und Hersteller, damit „der Kunde eben nicht nur ein Elektroauto kaufen kann, sondern sein Elektroauto am Markt erhält“, so die Forschungsbereichsleiterin.
Hinweis: Im Rahmen der „Videowoche des Leichtbaus“ entstand dieser Beitrag über das Handlungsfeld "Halbzeug und Preform-Technologien", der Einblicke in die Forschungsarbeiten gibt: bit.ly/Leichtbau_IRD_A
Weitere Informationen: Prof. Dr. Daisy Nestler, Telefon 0371531-36546, E-Mail daisy.nestler@mb.tu-chemnitz.de
(Autorin: Diana Schreiterer)
Mario Steinebach
05.11.2018