Wenn Physik auf Kunst trifft
Student David Röhlig näherte sich der Säulengruppe vor dem Hörsaalgebäude in seiner Bachelorarbeit – ganz theoretisch
Seit mehr als zwanzig Jahren stehen 187 Stelen aus vollverzinktem Stahlrohr auf einer Grundfläche von 16 Quadratmetern vor dem Hörsaalgebäude der Technischen Universität Chemnitz. Diese „Kunst am Bau“ stammt von Stefan Nestler aus Dresden. Viele, die an diesem sogenannten „Denk- und Wahrnehmungsmodell zum Phänomen der Farbe“ vorbeilaufen, werden vermutlich gar nicht wissen, was sich dahinter verbirgt. Die Säulen symbolisieren 187 Grundfarben der sogenannten RAL-Farbskala. Die obere Kuppe erhält jeweils eine Farbe eines im Druckgewerbe gebräuchlichen Systems dieser Farbskala. Die Länge der Säulen steht im Zusammenhang mit dem Helligkeitswert jeder Farbe.
Und genau diese Säulen haben es David Röhlig, der an der TU Chemnitz Physik studiert, angetan. In seiner Bachelor-Arbeit beschäftigte er sich nicht mit Farben, sondern mit der „Modellierung zweidimensionaler phononischer Kristalle“. Dies sind periodische Strukturen, die mit Schall wechselwirken. Dabei tauchte Röhlig tief in die Theoretische Physik ein und ging der Frage nach, wie derartige periodische Strukturen wie die Säulengruppe auf dem Campusplatz mit Schall wechselwirken können bzw. unter welchen Bedingungen durch Bandlücken ein Schallspiegel aufgebaut wird. „Derartige Fragestellungen sind beispielsweise in der Architektur von Interesse, wenn es um die Optimierung der Akustik in Konzertsälen geht“, erläutert der Student. Um es kurz zu machen: Röhlig konnte durch umfangreiche Berechnungen nachweisen, dass die vorhandenen Parameter des Kunstwerkes vor dem Hörsaalgebäude für Schallisolationen nicht ausreichen. „Auch wenn der praktische Beweis aussteht und keine aufwändigen Messungen an der Säulengruppe in Sicht sind, muss man eine Zweckentfremdung dieser Kunst am Bau nicht befürchten“, sagt Röhlig mit einem Lächeln.
Prof. Dr. Angela Thränhardt, Inhaberin der Professur Theoretische Physik – Simulation neuer Materialien, die die Bachelorarbeit betreute, sagt im Rückblick: „Die Skulptur vor dem Hörsaalgebäude erfüllt durch die periodische Variation in Form von regelmäßig angeordneten, von Luft umgebenen Metallstangen die Anforderungen eines phononischen Kristalls. Für uns war dies deshalb ein idealer Untersuchungsgegenstand für sehr anspruchsvolle Fragestellungen der Physik.“ Das Besondere an der vorliegenden Bachelorarbeit sei, dass ein Kunstwerk durchaus als physikalisches „Experiment“ gesehen werden könne.
Röhlig startete nun zum Wintersemester ein weiterführendes Masterstudium Physik an der TU Chemnitz. Gemeinsam mit Thränhardt denkt er bereits über einen neuen Ansatz für die Masterarbeit nach. Auf jeden Fall möchte er den phononischen Kristallen treu bleiben, vermutlich nicht mehr im Bereich der Kunst, eher auf einem technischen Gebiet.
Hintergrund: RAL
RAL ist ein europäisches Farbabstimmungssystem, das Farben für den Anstrich, Beschichtungen und Kunststoffe definiert. Die Abkürzung steht für Reichs-Ausschuß für Lieferbedingungen und Gütesicherung, dessen Gründung im Jahr 1925 der Rationalisierung der deutschen Wirtschaft diente.
Mario Steinebach
22.11.2019