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Königliche Höhere Gewerbschule und Böttchersche Reform

Königliche Höhere Gewerbschule und Böttchersche Reform

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Das Jahr 1862 markiert insofern einen neuen Abschnitt im technischen Bildungswesen, als hier die Schule den Namen Höhere Gewerbschule erhält. Das disziplinäre Spektrum ist vielfältig: Da sind zunächst die vorbereiteten Fächer - Deutsch, Mathematik, Darstellende Geometrie, Chemie, Baukunde, Freihand- und Bauzeichnen wie auch Geographie, Geschichte, Französisch, Englisch und Kaufmännisches Rechnen. In der eigentlichen Fachausbildung folgen für die Mechaniker Mechanische Technologie, Maschinenkunde, Mechanik, Maschinenzeichnen, Metallurgie und Vermessungslehre, für die Chemiker Chemisches Praktikum, Physik, Technische Chemie wie auch Maschinenkunde und -zeichnen.

Die Landwirtschaftsausbildung widmet sich darüber hinaus noch der Viehzucht, dem Pflanzenbau, der Boden- und Düngerlehre sowie der landwirtschaftlichen Baukunde. Auch für die Allgemeinbildung wird gesorgt: Französische und englische Sprache, Kaufmännisches Rechnen und Buchhalten sowie Bossieren (das Herstellen von Gips- oder Wachsfiguren). Zuzüglich reagiert die Schule auch auf weitere gewerbliche und industrielle Erfordernisse und etabliert die Fächer Brauereimechanik, Mühlenbau, Spinnerei, Weberei, Brunnenbau und Röhrenanlagen wie auch Seifensiederei.

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1866 übernimmt E. T. Böttcher, Lehrer für Maschinenlehre und Mechanische Technologie, das Direktorat der Einrichtung. Ein glücklicher Griff, wie sich zeigen sollte, denn man bescheinigt diesem international ausgewiesenen Fachmann "ein in jeder Hinsicht ausgezeichnetes Talent, überzeugende Klarheit und unvergleichliche Arbeitskraft". Böttcher widmet sich sogleich der Umgestaltung der Ausbildung, weil die Gründung von Realschulen die bislang übliche und durch die Gewerbschule gewährte Vorbildung überflüssig macht; die Fachausbildung kann somit wesentlich erweitert werden.

Vor allem orientiert er auf die Vertiefung der technischen und allgemeinbildenden Pflichtfächer in einem Umfang von 27 bis 38 Wochenstunden, zudem werden bis zu 20 verschiedene Wahlfächer angeboten. Den Erfolgreichsten winken nicht nur hohe Auszeichnungen - das Belobigungsdekret sowie die Silberne Preismedaille -, sondern auch die Aussicht, sich erfolgreich etablieren zu können. Nicht wenige der Absolventen gehören deshalb auch zu jenen Unternehmern, die in wenigen Jahrzehnten fast aus dem Nichts heraus zu Millionären werden.

Die Böttchersche Reform hat in ihrer äußeren Form über 40 Jahre Bestand und erweist sich als Garant dafür, daß die Schule nicht im Mittelmaß verkümmert, also weiterhin international attraktiv bleibt. So organisiert beispielsweise Österreich im Rahmen der Neuordnung des mittleren und niederen technischen Schulwesens 1876 die Staatsgewerbeschulen ausschließlich nach Chemnitzer Muster.

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Angesichts steigender Schülerzahl macht sich auch ein neues Gebäude erforderlich, E. A. Gottschaldt , 1. Lehrer der Bauwissenschaften an der Baugewerkenschule, übernimmt die entsprechende Verantwortung. Die feierliche Weihe des heutigen Eduard-Theodor-Böttcher-Baues erfolgt 1877. Die vier Schulen - Höhere Gewerbschule, Baugewerkenschule, Werkmeisterschule und Gewerbzeichenschule, ab 1878 unter dem Namen Technische Staatslehranstalten vereinigt - und ihre 615 Schüler erhalten damit ein neues Domizil.

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Zur gleichen Zeit wird auch eine Bauabteilung für die wissenschaftliche Ausbildung von ausführenden Architekten gegründet. Im Bereich der Gewerbe und der hochentwickelten Industrie entwickeln sich in den Folgejahren weitere Erfordernisse nach spezifischer technischer Bildung, und so werden 1880 eine Müllerschule, 1885 eine Seifensiederschule und 1886 eine Färberschule eingerichtet.


Ab 1892 wird auch die aufstrebende Elektrotechnik über eine eigene Abteilung institutionalisiert. Absolventen, die bislang mit einem Abgangszeugnis von der Einrichtung gingen, erhalten neuerdings ein sogenanntes Absolutorialzeugnis (später Reifezeugnis genannt), das ein Weiterstudium an der TH Dresden, den Erwerb des Diplom sowie des Doktortitels ermöglicht.

Im Jahre 1900 - eine entscheidende Zäsur im Verlaufe der Schulgeschichte, die bereits viele Tausende Absolventen und zudem eine Reihe berühmter Schüler- und Lehrerpersönlichkeiten zählt - anerkennt die Sächsische Regierung die über die Grenzen des Landes hinausreichenden hervorragenden Leistungen durch die Erhebung in den Rang einer Königlichen Gewerbeakademie, die Werkmeisterschule wird gleichzeitig zur Königlichen Maschinenbauschule. Für die Chemnitzer Gewerbeakademiker öffnen sich damit die Tore zum Besuch aller höheren technischen Bildungsanstalten in Deutschland.